Ich bin auch fasziniert über Eure tollen Gedanken und Interpretationen!
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Di 9. Nov 2021, 06:45
"... es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."
Kann man das nicht auch so lesen, dass man die Aufgabe ist, sich selbst in die Leere zu zeichnen; wobei Leere meint, dass es keinen vorgegebenen oder festen Grund gibt.
Wobei der Ausdruck "das gezeichnete ich" natürlich auch einen wichtigen passiven Klang hat: Man ist irgendwie gezeichnet vom eigenen Schicksal von den Bedingungen etc.pp.
Den Gedanken habe ich auf mich wirken lassen.
Dabei habe ich mir vorgestellt, wie man ein Bild mit einem Holzstück in den Sand malt und das Wasser es dann wegspült oder wie man mit dem Finger an eine beschlagene Scheibe etwas malt und danach löst sich der Beschlag wieder auf. Es wird etwas gezeichnet, was aber vergänglich ist. Dieses Gezeichnete bleibt demnach also gar nicht dauerhaft.
Das wiederum führt aber zum Schluss, dass es nicht zwei Dinge, sondern nur eines gibt, das wäre dann die Leere. In der 2. Strophe spricht er davon: „Es gibt nur eines….“ Und in der letzten Strophe gibt es dann zwei Dinge.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mi 10. Nov 2021, 07:51
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich
Hier komme ich nicht so richtig mit. Das Rosen blühen und verbleichen, das verstehe ich noch aber Schnee und Meere? Der Schnee fällt und schmilzt? Die Meere sind entstanden und werden vergehen?
guter Punkt. Nun vermute ich auch leicht, wie Fredericke äußerte, dass einige Wörter zur Verstärkung eingesetzt wurden und auch dem Reim geschuldet sind.
In dieser Hinsicht bin ich aber skeptisch, ob man Gedichte anhand Sprachkonstruktionen analysieren kann. Es hängt ja noch ein verdeckter Kontext dahinter. Aber vielleicht kann man dadurch das Gesamtbild des Gedichts etwas entmystifizieren.
Friederike hat geschrieben : ↑ Do 11. Nov 2021, 15:14
… daß Benn zu viele Wörter nicht deswegen ausgesucht hat, weil es die inhaltlich treffendsten sind, sondern um der Form(en) willen. Ich, wir, du (die Abfolge) wegen des Reimes; geschritten, erlitten ebenfalls, damit es sich reimt und Sinn, Sucht, Sage wegen der Buchstaben am Beginn (ich weiß den Fachausdruck nicht). Dadurch erhält das Gedicht für mich zu viel Gezwungenes.
Friederike hat geschrieben : ↑ Di 9. Nov 2021, 16:53
Die 3er "Päckchen" sind sicher das Spannende an dem Gedicht, aber das ist mir im Augenblick zu kompliziert. @transfinitum, mit "schlicht" hast Du, nehme ich an, die Sprache gemeint. Denn inhaltlich durchsichtig finde ich es kein bißchen.
Ja, ich meinte die einfach gehaltene Sprache und auch die Kürze der einzelnen Strophen. Es wird auf Ausschmückungen verzichtet und das macht das ganze Gedicht sehr minimalistisch. So scheint es zumindest auf mich, dass nicht vom Eigentlichen abgelenkt wird.
AndreaH hat geschrieben : ↑ Mi 10. Nov 2021, 00:41
"Das ist eine Kinderfrage,
Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du musst."
Es gibt nur eines, was man muss
-Sterben-
und mit diesem Fakt lernt man umzugehen, daher "ertrage"
Auch wenn Sterben tatsächlich das einzige ist, dass man wirklich muss, vermute ich nicht, dass Benn hier dies anspricht. Das würde nicht zum fernbestimmten Du musst passen. Ich denke, dass es sich darauf bezieht, dass man in die Welt geworfen ist und Einflüssen/ Ziele/Projektionen gegenüber ausgesetzt ist und die Quasi-Ausgeliefertheit gegenüber den Sinnen, Süchten, Sagen und ertragen „muss“.
AndreaH hat geschrieben : ↑ Mi 10. Nov 2021, 00:41
"Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."
Dieser Absatz fasst noch einmal die beiden oberen Absätze zusammen.
Alles was wächst, sich verändert und verformt wird auch irgendwann zum Ende kommen.
Es entsteht auch immer aus dieser Leere (aus diesem Neubeginn) diese neue Formung.
Mir gefällt deshalb auch die Interpretation von Jörn sehr gut.
Es ist also immer ein Wechsel zwischen Neubeginn und Formung da.
Man kann auch im Leben verschiedene Abschnitte als Neubeginn und Formung sehen.
Da der Dichter auch Meere in seinem Gedicht als einen Teil dieses Wechselspiels erwähnt, geht er nicht nur vom Menschen aus.
Wasser hat auch seinen Kreislauf und verändert immer wieder die Form, genauso wie die Rosen, .....
Elemente bleiben immer erhalten, sie verändern einfach nur die Form.
Ich denke auch, dass Benn diesen Wechsel zum Ausdruck bringen möchte. Der Vergleich mit dem Wasser ist vermutlich aus deshalb von ihm verwendet, weil Wasser sinnbildlich für Veränderung und Wandelbarkeit steht. Nur deutet er in seiner letzten Strophe darauf hin, dass etwas bleibt, was eigentlich nicht bleiben kann. Denn die Leere ist nichts, was bleibt oder in einer Form erhalten bleiben kann. Sie ist Voraussetzung, dafür, dass etwas in Form eintritt. Der Krug kann nur Wasser aufnehmen, wenn darin eine gewisse Leere vorherrscht.
Dazu nur ein kurzer Einschub von Laotse:
Das Sein des Nichts
Dreißig Speichen treffen die Nabe,
die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern,
die Leere damitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes,
das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mi 10. Nov 2021, 18:22
Sinn, Sucht und Sage sind vielleicht die Ferne aus der heraus das "du musst" kommt?! Was bestimmt das "Du musst" aus der Ferne? Ein bestimmter Sinn? Eine gewisse Sucht - vielleicht gar die Sucht nach Erfolg? Oder eine Sage, vielleicht im Sinn von Erzählung oder Mythos? Oder einfacher formuliert: warum muss ich? Weil es Sinn ergibt, weil ich einer Sucht nachgebe oder weil es die Sage ist?
Aus der Ferne würde ich so interpretieren, dass es etwas ist, was nicht aus einem selbst entspringt. Es wurde von außen aufoktroyiert. Seien es Sucht nach Erfolg oder der der Drang als Künstler ein berühmtes Meisterwerk zu erschaffen.
Stefanie hat geschrieben : ↑ Mi 10. Nov 2021, 19:42
Die Leere bleibt, wenn man wahrscheinlich dieses fernbestimmte Du musst, nicht umsetzt, oder es nicht ertragen kann, weil entweder es durch Konventionen bestimmt ist, oder durch eine Sucht, die vielleicht auch die Sucht ist, unbedingt eine Sinn zu finden. Den man nicht findet.
Würde es so sehen, dass die Leere unabhängig von der Erfüllung der Aufgabe besteht. Sie ist quasi Voraussetzung und einfach da. Selbst wenn das fernbestimmte du musst ausgeführt wird, führt es zu keiner Erfüllung, da es nicht aus dem Selbst entspringt. (Ob dieses eigene du musst aber da ist, ist wieder eine andere Frage..) Benn weist m. E. darauf hin, dass man nur lernen kann, es zu ertragen und damit umzugehen.