Kaffeestübchen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
Nauplios
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Die Wirklichkeit:

Bolz ist Luhmannianer. Keine Macht der Moral. Luhmann hat in seiner Theorie der Gesellschaft den gesellschaftlichen Teilsystemen, die nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern wechselseitig Umwelt füreinander sind, jeweils "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" zugeordnet. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems ist Macht. Das Wort "Macht" in Bolz' Parole ist ein Luhmann-Wort, hinter dem sich die Referenz auf das gesellschaftliche Teilsystem Politik verbirgt. Wer in den 70er Jahren die Luhmann/Habermas-Debatte verfolgt hat, wird diese Verbindung (Macht ~ symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium) schnell herstellen können, wer nicht auch; denn Bolz weist auf Luhmanns Systemtheorie mehrfach hin.

"Keine Macht der Moral" wird damit als Titel zu einem listigen Wortspiel: es heißt eben gerade nicht: tretet die Moral in die Tonne. Es heißt: schaut auf die Funktionsweise (nicht auf die "Substanz" der Gesellschaft, auf Beine, Haarfarben, Telefonleitungen, Verdauungstrakte, Sitzmöbel, Geschlechtsorgane ...) der Gesellschaft und ihre Teilsysteme. Schaut wie das politische System der modernen Gesellschaft funktioniert und schaut wie Moral funktioniert. Bekanntlich besteht die Gesellschaft in Luhmanns Systemtheorie nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Moral ist bei Luhmann keine Verfaßtheit des menschlichen Charakters wie etwa beim griechischen Ethos-Begriff. Moral gibt einen Horizont an Möglichkeiten vor. Moralische Kommunikation überlastet sich chronisch selbst, weil sie die jeweiligen Erwartungen alter egos ständig mitreflektiert. (Das belegt vorzüglich diese Diskussion hier!) Wollte man den Preis einer Banane im Supermarkt bei jedem Einkauf ständig neu bestimmen und dabei die moralisch miserablen Produktionsbedingungen berücksichtigen, die moralisch zweifelhaften Lieferketten, die Arbeitsbedingungen der Kassiererin, wäre das Verfallsdatum der Banane überschritten bevor es zu einer Einigung gekommen wäre. Das Kommunikationsmedium der Wirtschaft ist Geld. Man kann dann den ungerechten Preis für die Banane moralisch aufarbeiten während man sie verzehrt. Das kann lange dauern. Der Kauf hingegen geht schnell. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Geld ermöglicht es.

Das politische System steht vor der Frage, ob schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden. Vor einigen Wochen gab es dazu zwei offene Briefe an Scholz. In dem einen stand, es sei moralisch geboten, der Ukraine schnellstmöglich mit der Lieferung von Waffen gegen ein üblen Aggressor zur Seite zu stehen. In dem anderen stand, es sei moralisch geboten, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Zu den Unterzeichnern beider Briefe gehörten Philosophen, Schriftsteller, Intellektuelle. - Nun hat die Regierung die Macht (!), mithilfe ihrer Mehrheit die Sache zu entscheiden, in welche Richtung auch immer. Die Regierung hätte aber auch die Möglichkeit, von ihrer Mehrheit keinen Gebrauch zu machen und das Ganze als "Gewissensentscheidung" den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu überlassen. So geschehen bei der Impfpflicht. Man nutzt nicht die vorhandene Machtoption, um ein Gesetz zu verabschieden, sondern macht daraus einen moralischen Sachverhalt. Dann schlägt die Stunde der Ethik-Kommissionen, man sucht fraktionsübergreifend nach Mehrheiten usw. Bei der Impfpflicht kam jedoch heraus, daß die unterschiedlichen Gewissen der Abgeordneten sich auf keinen Gesetzentwurf einigen konnten. Die Gewissen der Abgeordneten lehnten sämtliche Entwürfe ab. Ergebnis: es gibt keine Impfpflicht. Gewissen bedeutet, es wird etwas zu einer moralischen Angelegenheit, zu einer Sache von gut und böse. Jetzt gibt es keine Impfpflicht. Ist das gut?

Man stelle sich diesen Fall auf die Frage der Waffenlieferungen vor: Die Regierung weigert sich, zu regieren und macht aus der Frage der Waffenlieferungen eine Frage des Gewissens. Die Abgeordneten können sich fraktionsübergreifend nicht einigen. Es kommt zu keinen Waffenlieferungen in die Ukraine. Ist das gut?

Die Regierung hat die Macht. Und ähnlich wie beim Bananenbeispiel kann sie die Macht ausüben und damit Entscheidungen fällen. Während man im Supermarkt Bananen kauft, kann der Deutsche Bundestag einen Gesetzentwurf verabschieden. Man kann auch im Supermarkt den Kauf von Bananen grundsätzlich moralisch bezweifeln und im Bundestag das moralische Für und Wider von Waffenlieferungen erörtern bis Putins Truppen kurz vor Berlin stehen.

In der Systemtheorie Luhmanns ist Macht das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems. WAS dann dieses System entscheidet, ist eine ganz andere Sache. Was Bolz meint mit Keine Macht der Moral ist, daß wir die Errungenschaften, den Vorteil, den Fortschritt (!) einer differenzierten Gesellschaft nicht dadurch verspielen, daß wir politische Fragen grundsätzlich zu moralischen Fragen machen. Was weder Luhmann noch Bolz noch ich wollen ist die Abschaffung der Moral. Im Gegenteil. Es geht um die Funktionsweise der Moral und am Ende kann eine am Guten ausgerichtete Politik, die politische Entscheidungen grundsätzlich zu moralischen Entscheidungen macht, zum Ergebnis führen, daß sich - um im obigen Beispiel zu bleiben - Krieg in Europa wieder lohnt. Dann stand das Gute zur Debatte, aber das Böse bestimmt die Wirklichkeit.

Das ist jetzt der Moment, wo es heißen wird: Nauplios gibt das Gute für das Böse aus. ;)




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Jörn Budesheim
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Fr 1. Jul 2022, 15:01

Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 14:44
Nauplios gibt das Gute für das Böse aus.
Genau, so ist es. Das ist eine durchgehende Linie in deinem "Diskurs".




Nauplios
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Es wird also nicht behauptet, daß die Moral abzuschaffen ist. Es soll umgekehrt aufgezeigt werden, wie Moral (Luhmann spricht von Differenz Achtung/Nichtachtung) in der Gesellschaft funktioniert. Und natürlich: warum es kein Vorteil ist, evolutionäre (im Sinne des Luhmann'schen Begriffs von Evolution, nicht im Darwin'schen) Errungenschaften wie die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme wieder abzuwickeln - etwa durch eine Moralisierung des Politischen.

Trotzdem fahren Luhmannianer Elektroautos, helfen Flüchtlingen bei der Wohnungssuche, lassen sich impfen und wenn's darauf ankommt, retten sie auch Kinder vorm Ertrinken.

Daß Bolz in seiner Streitschrift und mit der List des gewählten Titels gelegentlich den Bolsonaro gibt, will ich nicht bestreiten. Lesen allein ist noch keine Zustimmung.




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Jörn Budesheim
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Was Bolz von Moral hält, kann jeder auf Twitter verfolgen.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 15:01
Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 14:44
Nauplios gibt das Gute für das Böse aus.
Genau, so ist es. Das ist eine durchgehende Linie in deinem "Diskurs".
:lol:

Wenigstens darauf ist für den Mann der 70er noch Verlaß.

Ich werd mich für's Wochende wohl verabschieden müssen. Jetzt muß ich erst wieder in die Buchhandlung. ;)




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 15:07
Trotzdem fahren Luhmannianer Elektroautos, helfen Flüchtlingen bei der Wohnungssuche, lassen sich impfen und wenn's darauf ankommt, retten sie auch Kinder vorm Ertrinken.
In Ausnahmefällen ist es wohl okay, wenn das, was man tut und das, was man denkt, auseinander klaffen. Besser so rum als andersrum.




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Jörn Budesheim
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Fr 1. Jul 2022, 15:28

Wäre mal eine Erhebung wert: Wie viel des Umsatzes machen Buchhändler/Verlage aufgrund des confirmation bias?




Nauplios
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"Nach langer Zeit mal wieder ein Buch, das ich auch kenne." (Der Buchhändler) ;)
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NaWennDuMeinst
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Fr 1. Jul 2022, 23:25

Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 14:44
Es geht um die Funktionsweise der Moral...
Welche Funktionsweise würdest Du oder würde Luhmann denn bevorzugen?



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Timberlake
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Sa 2. Jul 2022, 00:55

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 23:25
Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 14:44
Es geht um die Funktionsweise der Moral...
Welche Funktionsweise würdest Du oder würde Luhmann denn bevorzugen?
  • symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
    Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist laut Luhmann besonders stark durch die fünf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst geprägt.


In dem für Luhmann .. die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft besonders stark durch die fünf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst geprägt ist , so dürfte sich für Luhmann die Funktionsweise der Moral eben daraus ableiten. Habe ich Macht, habe ich Geld , werde ich geliebt , verfüge ich über die Wahrheit und die Kunst , so sollte die Moral eigentlich funktionieren.
Nauplios hat geschrieben :
Fr 1. Jul 2022, 14:44
Was weder Luhmann noch Bolz noch ich wollen ist die Abschaffung der Moral.
Deshalb kann weder Luhmann noch Bolz , noch irgend jemand wollen , dass die Macht , das Geld , die Liebe, die Wahrheit und die Kunst abgeschafft wird. Würde doch damit zugleich die Moral abgeschafft werden.
  • : diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber- Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!
    Friedrich Nietzsche ..Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre
Offenbar ist diese Welt mehr , als nur der Wille zur Macht oder auch nicht , wenn man denn Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst wie auch als solches die Moral darunter sublimiert. Was ja so abwegig wohl nicht ist. Habe ich Geld , Liebe, Wahrheit , Kunst und verfüge ich daraus ableitend über eine funktionierende Moral , so sollte es doch mit Teufel zu gehen, wenn ich damit nicht auch zugleich die Macht habe. Wohlgemerkt lt. Nietzsche einem Willen zur Macht, in einer dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber- Zerstörens und wer wollte ihm darin widersprechen.




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Jul 2022, 08:05

Dietmar Hübner hat geschrieben : Moral erscheint [bei Niklas Luhmann] als hilflos, sogar als abträglich für moderne Gesellschaften. Normative Überlegungen zur angemessenen Gestalt moralischer Überzeugungen wirken vor diesem Hintergrund naiv und verfehlt. Dennoch lässt sich fragen, ob dieser skeptischen Auffassung von Moral nicht womöglich eine verborgene normative Perspektive zugrunde liegt: Immerhin ist jene Ablehnung von Moral selbst ein Urteil. Die Frage ist, ob dieses Urteil nicht in letzter Konsequenz moralischer Art ist.
Das ist in gewissermaßen eine Beschreibung des Streites hier in einer Nussschale. Das Gute ist das Böse. Zu diesem widersinnigen Urteil gelangt man u.a., weil man nicht unterscheidet zwischen Moral und moralischen Einstellungen.

Hier noch mal dasselbe Muster: Moral hat, wie Hübner schreibt, gemäß Luhmann "keine Integrationskraft für die Gesamtgesellschaft. Stattdessen weist sie ein hohes Streitpotential auf, führt zu Abstoßung und Verfeindung". Zu Streit führt natürlich nicht die Moral, sondern die verschiedenen moralischen Einstellungen.

Außerdem rechnet diese Position und nicht damit, dass Streit um moralische Fragen auch ein klarer Index des moralischen Fortschrittes sein kann! Wenn Protagonisten, die über lange Zeiten zum Schweigen verurteilt waren, z.b. weil sie marginalisiert wurden, plötzlich immerhin in der Lage sind, ihre Stimme zu erheben und Ansprüche geltend zu machen, dann ist man ein klein wenig weiter als zuvor. Zwar war zuvor Ruhe, weil, wie man manchmal so schön sagt, alles fein säuberlich unter dem Teppich gekehrt war, und nun ist Streit ... Dazu gibt es eine sehr schöne Metapher von El-Mafaalani. Das Bild kann man natürlich - mutatis mutandis - auch auf andere Gruppen und Situationen ausweiten...
El-Mafaalani ist Sohn syrischer Einwanderer, Lehrer, Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie und koordiniert jetzt die Integrationspolitik im NRW-Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. Als Metapher für die Integration von Migrierten in eine Gesellschaft wählt er einen Tisch.

Die Gesellschaft am Entscheidertisch

Zuerst sitzen die, die neu dazu kommen, am Boden. Es dauert eine Weile, bis sie die Sprache gut genug sprechen, die Tischregeln kennen, den Mut haben, mitzumischen, bis sie also am Tisch Platz nehmen dürfen, können und wollen. Das ist er erste Schritt der Integration. Im nächsten Schritt sind die Neuen am Tisch eben keine Neuen mehr und erheben Anspruch, über die Verteilung des Kuchens auf dem Tisch mitzuentscheiden. Im dritten Schritt – da sind wir heute – streiten wir darüber, ob das der richtige Kuchen, das richtige Rezept ist. Der Kuchen kann dabei für alles Mögliche stehen. Naheliegend ist die Metapher für das Thema Ressourcen, wobei man Ressource weit fassen kann. Tischregeln stehen für Gesetze und Regularien. Und möglicherweise gibt es auch eine Diskussion darüber, wer an welchem Platz am Tisch sitzt ...




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Jul 2022, 08:36

Es gibt auch noch weitere Unterschiede, die von manchen gerne systematisch verwischt werden. Da ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Moral und Moralismus. Wobei ich unter Moralismus hier pi mal Daumen verstehen will als eine Haltung, bei der Protagonisten gewisse moralische Grundsätze nach Art der Erbsenzähler auf beliebige Situationen projizieren, dabei fehlt es oft an Reflektiertheit und Fingerspitzengefühl. Solche Zeitgenossen können sogar recht unangenehm sein, weil manche davon alles im Lichte ihrer holzschnittartigen Auffassungen sehen. Wenn man diesen Unterschied verwischt, dann kommt man natürlich auch zu der absurden Konklusion, dass das Gute das Böse ist.




Burkart
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Sa 2. Jul 2022, 11:21

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 29. Jun 2022, 01:22
Burkart hat geschrieben :
Di 28. Jun 2022, 18:58
Woher weiß sie in einer solchen Situation, dass es wichtiger ist das zu befolgen was Menschen im Allgemeinen wollen und nicht dass was der Mensch vor ihr gerade will?
Tja, woher weiß ich Mensch das? Da hilft nur viel lernen und Erfahrung.
So einfach ist das aber nicht.
Keiner sagt, dass es einfach ist.
Die Maschine kann nämlich gar nicht alle nötigen Erfahrungen haben oder machen.
Nicht identisch wie ein Mensch, aber eben anders viele.
Woher nimmt die Maschine denn z.B. die Erfahrung wie es sich anfühlt (wie es ist) ein Mensch (eine natürliche Intelligenz) zu sein?
Natürlich gar nicht. Aber du weißt auch nicht, wie ein Hund, eine Ameise oder gar eine Pflanze fühlt, soweit man es denn jeweils sagen kann und will.
Aber ich weiß auch oft nicht, was andere Menschen gerade fühlen, oft kann man nur raten und rät nicht selten daneben.
Dass ich einen Gegenstand nicht zerstöre, weil ich damit einen Menschen traurig mache ist für uns Menschen ein gewichtiger Grund, weil wir wissen was es heißt (wie sehr das weh tut) traurig zu sein.
Wie aber soll die gefühllose Maschine das nachvollziehen?
Nachempfinden kann sie es natürlich nicht, aber nachvollziehen, in dem sie viel von uns Menschen lernt, wann wir was als gut oder schlecht bezeichnen (und ggf. gar unsere Reaktionen lernt zu verstehen).
Wie soll sie den Wert von Glück begreifen?
Das kann sie ja überhaupt nicht, weil sie weder Leid noch Glück empfindet.
Es geht halt nur auf der "intellektuellen Ebene" des Lernens und Sammeln und Auswerten von Daten.
Und sag jetzt nicht wieder das muss sie nicht. Doch, das muss sie.
Nur, wenn sie ein perfekter Menschen sein soll, was natürlich nicht der Fall sein kann.
Genau so funktioniert das nämlich bei uns Menschen. Durch die eigenen Gefühle und Empathie entwickeln wir Verständnis für Werte.
Bei uns Menschen - aber eben nicht genauso bei KI.
Das ist ein wichtiger Teil dessen was Du "Lernen und Erfahrung" nennst.
Dass es maschinelles Lernen gibt, ist klar. Erfahrung ist vielfältig, z.B. Sammeln von Daten aus der (Um-)Welt.
Wie fühlt es sich an verletzt zu sein? Was ist eine Kränkung? Was heißt es glücklich zu sein? Was ist Mitleid?
Das alles kann die Maschine nicht verstehen, weil sie tot, kalt und gefühllos ist.

Du meinst Du könntest alles das einfach mit Binärschaltungen (Logik) und dem massenhaften Ansammeln von Daten ("Lernen") nachbilden.
Nein, kannst Du nicht. Nicht mal im Ansatz.
Wie gesagt, die KI soll kein Mensch sein, nur intelligente Eigenschaften nachbilden, z.B. wie man von A nach B kommt mit Überwindung von Hindernissen und dies lernen - oder vielleicht, wie man einen Impfstoff erschafft durch eine Vielzahl von Experimenten und Auswertung von Ergebnissen usw.. Und das eben möglichst allgemein und gut lernend u.ä., nicht nur als schwache, ausprogrammierte KI.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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NaWennDuMeinst
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Sa 2. Jul 2022, 12:31

Burkart hat geschrieben :
Sa 2. Jul 2022, 11:21
Wie gesagt, die KI soll kein Mensch sein, nur intelligente Eigenschaften nachbilden, z.B. wie man von A nach B kommt mit Überwindung von Hindernissen und dies lernen - oder vielleicht, wie man einen Impfstoff erschafft durch eine Vielzahl von Experimenten und Auswertung von Ergebnissen usw.. Und das eben möglichst allgemein und gut lernend u.ä., nicht nur als schwache, ausprogrammierte KI.
Also ein Spezialist in bestimmten Bereichen. Unter Menschen würde man das einen Fachidioten nennen.
Nur dass kein Fachidiot so reduziert ist wie dein Apparat. Immerhin meistern idR auch Fachidioten ihr Leben gut.

Ich bin aber insgesamt mit deiner Antwort nicht zufrieden. Wann immer man dir sagt was Deine Maschine nicht kann ziehst Du dich auf die Aussage zurück, dass sie das ja auch nicht soll.
Aber ich frage mich dann immer was ich mit einer künstlichen "Intelligenz" anfangen soll die die einfachsten Dinge nicht versteht. Wenn wir z.B. daran denken dass diese Intelligenzen auch mit dem Menschen interagieren, ihn vielleicht sogar pflegen oder versorgen sollen, dann reicht es nicht zu sagen die Maschine muss nur irgendwas nachvollziehen können. Das reicht einfach nicht. Wenn sie andere Menschen in Aufgabengebieten ersetzen soll, muss sie auch deren Fähigkeiten haben. Und das hat sie einfach nicht. Und das wird sie auch nicht. Im Bereich unserer Gefühlswelt (dessen Bedeutung für uns Menschen Du regelmäßig massiv unterschätzt) gibt es schlicht überhaupt keine Idee wie man Maschinen sowas beibringen soll.
Und so lange das so ist, solange diesen Apparaten dieser Teil fehlt, sind sie für mich auch keine ernstzunehmenden Kandidaten dafür in ihren mehr zu sehen als nur seelenlose, tote, Metallkästen.



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NaWennDuMeinst
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Sa 2. Jul 2022, 14:46

Nehmen wir mal folgendes Beispiel wie es so wahrscheinlich andauernd vorkommt im Leben der Menschen.
Mein Freundin fragt mich nach Geld, weil sie gerade knapp bei Kasse ist. Ich selber bin auch gerade knapp, aber weil ich sie liebe knapse ich für sie noch was ab.
Für jeden x-beliebigen Menschen hätte ich das nicht getan.
Die Begründung "weil ich sie liebe" (also weil sie mir etwas bedeutet), die kann eine Maschine gar nicht nachvollziehen.

Wie wäre die Situation abgelaufen, wenn meine Freundin anstatt mich einen Roboterfreund gefragt hätte?
Die Maschine könnte zur Lösung der Frage ob sie meiner Freundin das Geld geben soll (oder nicht) alle möglichen Begründungen anführen, nur eine nicht: "Weil ich sie liebe".
Denn die Maschine liebt nicht. Sie fühlt überhaupt nichts.
Natürlich könnte auch ein Mensch ohne Gefühle zu involvieren zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber er könnte eben auch zu einem Ergebnis kommen das auf Emotionen als Begründung basiert.
Zu so einem Schluß könnte die Maschine aber nie gelangen. Diese Begründungsoption fehlt ihr vollkommen.
Solcherlei Begründungen sind aber im Leben der Menschen Alltag, das kommt alle Minute vor.



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Timberlake
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Sa 2. Jul 2022, 15:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Jul 2022, 08:05

Das ist in gewissermaßen eine Beschreibung des Streites hier in einer Nussschale. Das Gute ist das Böse. Zu diesem widersinnigen Urteil gelangt man u.a., weil man nicht unterscheidet zwischen Moral und moralischen Einstellungen.

Nur mal zur Erinnerung ..


  • symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
    Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist laut Luhmann besonders stark durch die fünf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst geprägt.




.. wenn man denn dazu auf die .. hier, von mir .. bzw. .. von Nauplios hier . erwähnten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst und damit auf Luhmann zurück kommt , würde man zu diesem zu diesem widersinnigen Urteil vielmehr dadurch gelangen, dass man Macht ,Geld , Liebe , Wahrheit und Kunst nicht zu kommunizieren weiß oder auch falsch kommuniziert .

Beispiel

Wie dadurch das Gute , das man mit dem wirtschaftlichen Wachstum und damit vor allem mit "Macht und Geld" kommuniziert, durch die "Wahrheit" eines desaströsen ökologischen Fußabdruck zum bösen mutiert. Letzteres wird so gut wie nie mit dem wirtschaftlichen Wachstum kommuniziert bzw. durch die Behauptung , dass man beides sehr wohl vereinen könne , so zumindest meine Meinung , falsch kommuniziert. Klar doch, dass in dieser "Nussschale" die Moral auf der Strecke bleibt. Wie wollte man auch im damit , die "Macht" ..losigkeit , die uns vom Streben nach wirtschaftlichen Wachstum geradezu aufgezwungen wird moralisch kommunizieren? Wenn doch dadurch das System "Wirtschaft und Mensch" , mit der Autopoiesis zunehmend jene Fähigkeit einbüßt, von der Luhmann sagt, dass es sich selbst macht..
  • Autopoiesis
    Eine weitere wesentliche Voraussetzung für das Vorhandensein eines Systems ist die Fähigkeit, sich selbst (wieder-)herzustellen, also die Autopoiesis. Der Merksatz im Luhmannschen Sinne lautet: Wenn es sich nicht selbst macht, ist es kein System. .. Lebewesen sind die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Für den Beobachter ereignet sich Leben von selbst, ohne dass ein äußerer herstellender Prozess eingreift.
.. ein solche , auf Raubbau ausgerichtetes Wirtschaftsystem wird sich auf dauer definitiv nicht selbst machen . Zumindest im Vergleich zu Lebewesen , die die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Wenn die in gleicherwese "wirtschaften" würden , so würde sie ganz sicher nicht zu einem solchen ursprünglichen Beispiel taugen.

.. und nun sei es dir "moralisch" unbenommen , wie auch immer , den Gesprächfaden nun mehr auch dazu abzuschneiden. Was hatten wir denn noch nicht ? ;)




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Jul 2022, 15:18

Die Moral kann nicht auf der Strecke bleiben, auf der Strecke bleiben kann höchstens die Orientierung daran.




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Sa 2. Jul 2022, 15:29

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 2. Jul 2022, 14:46
Nehmen wir mal folgendes Beispiel wie es so wahrscheinlich andauernd vorkommt im Leben der Menschen.
Mein Freundin fragt mich nach Geld, weil sie gerade knapp bei Kasse ist. Ich selber bin auch gerade knapp, aber weil ich sie liebe knapse ich für sie noch was ab.
Für jeden x-beliebigen Menschen hätte ich das nicht getan.
Die Begründung "weil ich sie liebe" (also weil sie mir etwas bedeutet), die kann eine Maschine gar nicht nachvollziehen.
  • symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
    Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist laut Luhmann besonders stark durch die fünf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst geprägt.


danke, dass du hier einmal mit dem Geld und der Liebe ein Beispiel , von zwei , der von Luhmnann hier erwähnten generalisierten Kommunikationsmedien abgegeben hast . Natürlich nur , wenn das auch in deiner Absicht lag.
hat geschrieben :

Luhmann Wiki

Ein Code ist "eine binäre Leitdifferenz oder eine bistabile Form zur Erzeugung von binären Unterscheidungen. Codes sind immer zweiwertig, [sie] haben einen positiven und einen negativen Wert. (...) Der positive Wert vermittelt Anschlussfähigkeit [und] der negative Kontingenzreflexion."[1]

Nun folgend, die Destinations- und Reflexionswerte wichtiger Funktionssysteme:

Wissenschaft - Wahr/nicht-Wahr
Wirtschaft - Zahlung/nicht-Zahlung
Eigentum - Haben/nicht-Haben
Recht - Recht/Unrecht
Politik - Macht/Ohnmacht
Religion - Immanenz/Transzendenz
Intimität - Lieben/nicht Lieben
Moral - Gut/Böse - Besser/Schlechter
soziale Arbeit - Hilfe/nicht-Hilfe

Psychisches System - Gedanke/nicht-Gedanke
Autopoietisches System - Leben/nicht-Leben
soziales System - Kommunikation/nicht-Kommunikation
.. in dem du bei knapper Kasse für deine Freundin noch etwas Geld abgeknapst , hast du durch deine " Zahlung" übrigens .. so Luhmanm ..Anschlussfähig, zu deiner Freundin vermittelt . Wohingehend bei jeden x-beliebigen Menschen durch " nicht -Zahlung "eine solche Anschlussfähigkeit unterbleibt.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 2. Jul 2022, 15:51, insgesamt 3-mal geändert.




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Sa 2. Jul 2022, 15:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Jul 2022, 15:18
Die Moral kann nicht auf der Strecke bleiben, auf der Strecke bleiben kann höchstens die Orientierung daran.
ok .. Haare spalten! .. als Methode des Fadensabschneidens hatten wir tatsächlich noch nicht ;)

Wohlgemerkt einen Faden, wonach .. wie hier beschrieben . mit die Orientierung auf wirtschaftliches Wachstum, wenn man so will , nicht etwa die Moral , sondern die Orientierung daran auf der Strecke bleibt. Können wir denn nun mehr , wo das geklärt ist , gemeinsam diesen Faden wieder aufnehmen ?




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Jul 2022, 15:50

Mit Haare spalten hat es meines Erachtens überhaupt nichts zu tun. Der Unterschied zwischen dem, was man glaubt und dem was der Fall ist, ist meines Erachtens nicht haarspalterisch.




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