"Was Frauen wollen ..."
"Hans Robert Jauß ist eine der unproblematischsten Bekanntschaften mit einem Mann, die ich je hatte. Ich will dies beschreiben, gerade weil er mittlerweile zu einem der problematischsten Wissenschaftler der deutschen Nachkriegsgeschichte geworden ist. Das Bild, das sich die Literaturwissenschaft und die Öffentlichkeit von dem Hauptmann der Waffen-SS hergestellt haben, trübt meine Erinnerung an ihn nicht, denn sein Dasein war ein viel zu starker Eindruck, als dass ich ihn vergessen und verdrängen könnte. Ich kann, wenn ich mich erinnere, bei dieser Figur nicht an den denken, der mir gegenwärtig auf Papier, aus Zeitungsblättern, aus Vorträgen und Dokumentationen, entgegengestellt wird. Ich sehe die kleine, markige Gestalt mit dem kantigen Gesicht, den scharfen Augen vor mir, wie sie mir vor mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal begegnete, so also, wie ich ihn kennenlernte, als ich knapp vierzig Jahre alt war und er Mitte fünfzig. So wie damals sah Jauß immer aus bis zu seinem Tod, gesund, schlank, zäh, entschlossen. Wer das Äußere dieser Person mit solchen Worten wiedergibt, hat seine Unschuld schon verloren: Wie anders, so wird man entgegnen, sollte einer aussehen, der SS-Offi zier gewesen war? Und doch steckte in der Figur mehr Eigenart, als es die Physiognomie zu sagen scheint; in eben derselben Erscheinung ist auch der bundesrepublikanische Professor mit dem großen internationalen Erfolg gut zu erkennen. In die Umgebung dieses berühmten Akademikers kam ich nur als die Ehefrau eines von Jauß geschätzten Kollegen, den er vermutlich seinem wissenschaftlichen Kreis zuführen wollte; der Umworbene jedoch wollte lieber Einzelgänger bleiben und sperrte sich gegen die Einladung. Jauß hatte sich nun einmal zur Anerkennung entschlossen, und so blieb, da das gelehrte Bündnis ausgeschlagen war, für einen Mann wie ihn, der sich auf alles, was er tat, streng verpflichtete, keine andere Lösung als der private freundschaftliche Umgang. Ich war in diesem Bund, wie bei allen Männerbekanntschaften, das Anhängsel. Nie aber hat mich Jauß diesen Nachteil spüren lassen. Er besaß die höchste Tugend, die unsere von Männern geschaffene Kultur den Männern auferlegt, in höchstem Maße: Fairness. Und so sah er sich verpflichtet, den Personen, denen seine Freunde zugetan waren, ebenso viel Achtung entgegenzubringen wie diesen selbst. Das hieß also, dass er neben den großen Leistungen seiner wissenschaftlichen Kollegen auch den kleineren eines Begleiters volle Anerkennung zollte, selbst wenn er weiblich war – und dieser Respekt war in den Siebzigern bei arrivierten Männern noch eine Seltenheit." (Hannelore Schlaffer;
Merkur; 01.06.2016)