Schematische Ostrakisierung

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
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Stefanie
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Do 28. Jul 2022, 22:26

Nauplios hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 22:09
Stefanie hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 21:08

Schuller war Althistoriker, so weit so gut. Jahrgang 1935. Wissenschaftler.
Sollte er dann nicht, über das was er erforschte, etwas mehr Neutralität an den Tag legen, anstatt sich diesen historischen Ansichten zueigen machen?
Waren andere "neutral" in der Sache Jauß?

Ich stimme Schuller auch nicht in jeder Äußerung zu. Allerdings sehe ich die Sache so: die Aufführung von Zahners Theaterstück im Audimax der Universität Konstanz gab den Deutungsrahmen ab für das, was zunächst der "Südkurier" und dann das Feuilleton aus dem "Fall Jauß" machten. In der akademischen Welt war man durchaus unterschiedlicher Auffassung in dieser Angelegenheit. Für eine breitere Öffentlichkeit hingegen war der Fall recht schnell klar. Zahner selbst hat später seinen Irrtum eingestanden (s. Beitrag von Aleida Assmann), aber da war der Fall Jauß für die (breite) Öffentlichkeit längst "klar". - Die Universität Konstanz und ihr damaliger Rektor haben in dieser Sache keine gute Figur abgegeben, um nicht zu sagen: eine miserable. Man muß Schuller nicht in allen Punkten folgen, aber in diesem darf man es. -
Ich meinte das grundsätzlich und allgemein.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 23:08

Gerhard Zahner im Interview mit seemoz (21.10.2013):

Herr Zahner, Ihr Bühnenstück handelt von Hans Robert Jauß, der an der Konstanzer Universität lehrte und eine lange verschwiegene NS-Vergagenheit hatte. Wen interessiert das heute noch?

Das habe ich mich anfangs auch gefragt, aber dann bin ich auf meiner Recherche an der Universität Prag drauf gekommen, daß Herr Jauß an einer Junkerschule in Kienschlag unterrichtet hat und Chef einer Inspektion war, die damals nichts anderes tat als in rascher Zeit SS-Offiziere ideologisch und waffentechnisch für den Krieg vorzubereiten. Und da hatte ich mein Thema: Schule als Waffe, die Universität als Waffe, mit dem Bogenschlag zur Gegenwart, daß heute solche Institutionen die modernen Kriege mit Soldaten versorgen - das Prinzip liegt eben in jener Zeit begründet und Jauß war Schüler an einer dieser Junker- oder Unterführerschulen, und dann auch Dozent an einer solchen Schule. Somit haben wir eben den Bogenschlag zu einer Universität."

"Bogenschlag zur Gegenwart" von den Junkerschulen des NS-Staats zu den Universitäten der Gegenwart.




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 23:16

Zahner in jenem Interview:

"Ich bin davon überzeugt, daß Jauß viele Verteidiger haben wird, aber das ist mir völlig wurscht. Ich ziehe das Ding durch, werde es dem Rektor der Universität schicken und ich werde ihn bitten, daß er mir die geeigneten Räume zur Verfügung stellt, damit ich versuchen kann, dieses Stück vorzustellen."




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 23:51

Am 12. Dezember 2014 schreiben zwei ehemalige Rektoren der Universität Konstanz (Bernd Rüthers und Horst Sund) und der Philosoph Jürgen Mittelstraß einen Brief an den damaligen Rektor Ulrich Rüdiger. Darin heißt es:

"Herr Zahner hatte seine Absicht einer einseitig polemischen Darstellung der Biographie Jauß in einem Interview voller unbewiesener Unterstellungen und Verdächtigungen mit dem Organ seemoz bereits am 21. Oktober 2013 unter dem Titel 'Gestatten: Hans Robert Jauß, SS-hauptsturmführer' eindeutig bekundet. Er äußerte darin: '... Ich ziehe das Ding durch, werde es dem Rektor schicken... ' Das führt zu der Frage: Waren Ihnen dieses leicht zugängliche Interview und die eindeutig polemischen Absichten des Autors Zahner bekannt, als sie ihm die Aufführung im Audimax erlaubten, bevor das von Ihnen bestellte Gutachten vorlag?

Zum Wissen und Schweigen an der Universität Konstanz im Fall Jauß ist daran zu erinnern, daß Herr Jauß nach der Presseerklärung der Universität Konstanz bei der Immatrikulation an der Universität Heidelberg im Jahr 1948 seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS vollständig angegeben hat. Auch unter den Kollegen des Fachbereiches war das durchgängig in den 70er und 80er Jahren bekannt.

Der zweite Umstand, der uns nach vielen Gesprächen mit Kollegen aus allen Sektionen zu diesem Schreiben veranlaßt, ist die Tatsache, daß noch vor der Veröffentlichung und Diskussion dieses Gutachtens im Auditorium maximum der Universität Konstanz am 19. November 2014 ein Theaterstück aufgeführt werden konnte, das vom Autor gezielt als eine leidenschaftliche Anklage konstruiert wird, obwohl für die Teilnahme des Beschuldigten an Kriegsverbrechen nach wie vor die Beweise fehlen. Die Pressemitteilung der Universität wirkt, gezielt auf den Tag der Aufführung gerichtet wie eine universitäre Bekräftigung dieser Anklage.

Unsere Sorge richtet sich darauf, daß das bisherige Vorgehen der Universität den Eindruck erwecken könnte, es spiegele die ganz überwiegende Meinung der Mitglieder der Universität Konstanz. Das trifft nach unseren Gesprächen mit vielen Universitätsangehörigen der meisten Disziplinen und der Verwaltung nicht zu."

Der Brief der beiden ehemaligen Rektoren und Jürgen Mittelstraß blieb ohne Antwort. Schuller hat sich darüber bei den Absendern erkundigt. - Warum?




Timberlake
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Fr 29. Jul 2022, 02:16

Nauplios hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 00:34

Was nun Nietzsche angeht, Timberlake ;) Es spricht nichts dagegen, ihn zum Maß aller Dinge zu machen, so möge es geschehen, aber im Moment bin ich davon noch nicht so recht überzeugt. ;) Aber nix für ungut.
In dem du deinerseits Blumenberg zum Maß aller Dinge gemacht zu haben scheinst , so möge es auch bei dir geschehen. Nur leider findet sich von ihm hier so gut wie gar nichts , als das ich meinerseits , im Moment davon noch nicht so recht überzeugt werden könnte. Aber nix für ungut.;)

Wie dem auch sei , dichter , als wie mit dem , von mir zitierte Text von Nietzsche , kann man ja wohl kaum, an dem Thema dieses Threads sein. Dazu nur noch mal zur Erinnerung ..
Timberlake hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 23:18

Wir wollen doch bitteschön an dieser Stelle nicht vergessen , dass seiner Zeit , als Hans Robert Jauß in der Waffen SS war , man sich als solches ausdrücklich nicht als böse verstand. Ganz im Gegenteil .
Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 16:36
"Die Erfahrung des Bösen in der Geschichte ist dem jungen Hans Robert Jauß, der sich 1939, nicht ganz 18 Jahre alt, freiwillig zur Waffen-SS meldete, wohl nicht erspart geblieben.
Wie es übrigens auch groteskt ist , an zu nehmen , dass der junge Hans Robert Jauß, als er sich 1939, nicht ganz 18 Jahre alt, freiwillig zur Waffen-SS meldete, eine Erfahrung des Bösen gemacht hätte. Mit dieser Erfahrung hätte er sich mit Sicherheit nicht freiwillig zur Waffen SS gemeldet. Ich übrigens auch nicht , als ich mich damals, in der DDR, mit 18 Jahren freiwillig zum Stasi Wachregiment Berlin Feliks Dzierzynski meldete.
  • "Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb mißtrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, daß man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit – sondern daß es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesamt einen großen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird."
    Nietzsche .. Jenseits von Gut und Böse
Wo ich nun mehr das Problem der Wahrhaftigkeit angerührt habe . so sei es euch nun unbenommen , "allesamt einen großen und tugendhaften Lärm (darum) zu machen", oder auch , wovon ich ausgehe , diese Wahrhaftigkeit ignorierend, mit dem .. so Nietzsche .. "vergreifen und verirren", fort zu fahren , ;)
… um das noch mal im Sinne .. der Redlichkeit! .. lt. Nietzsche und womöglich auch Blumenberg nur noch zu ergänzen. Völlig richtig ..die Erfahrung des Bösen in der Geschichte ist dem jungen Hans Robert Jauß, der sich 1939, nicht ganz 18 Jahre alt, freiwillig zur Waffen -SS meldete, wohl tatsächlich nicht erspart geblieben und zwar mit dem, was die SS für Böse hielt . Sonst hätte er sich wohl kaum freiwillig zur Waffen - SS gemeldet ? Ich meine .. normalerweise meldet man sich doch freiwillig zu etwas , was man für rechtens und gut hält . Oder etwa nicht?
Nauplios hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 23:16
Zahner in jenem Interview:

"Ich bin davon überzeugt, daß Jauß viele Verteidiger haben wird, aber das ist mir völlig wurscht. Ich ziehe das Ding durch, werde es dem Rektor der Universität schicken und ich werde ihn bitten, daß er mir die geeigneten Räume zur Verfügung stellt, damit ich versuchen kann, dieses Stück vorzustellen."

.. und was diesen Gerhard „Gerd“ Zahner , wohlgemerkt Jahrgang 1957! , angeht , ich gehe mit dir jede Wette ein , so wie der Hans Robert Jauß herzieht , so wäre der damals , in der Nazizeit , in gleicherweise über die Juden hergezogen. Dieser Typus Mensch ist wie ein Wellenreiter , die reiten jedwede , vom jeweiligen Zeitgeist vorgegebene Welle. Solche Typen kenne ich zur genüge auch noch aus der DDR.
  • – Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß, voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht, daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach »Konnexion« zu den natürlichen Pflichten gehört!
    Friedrich Nietzsche .. Morgenröte
… Pfui !




Nauplios
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Fr 29. Jul 2022, 15:59

Timberlake hat geschrieben :
Fr 29. Jul 2022, 02:16

... und was diesen Gerhard „Gerd“ Zahner , wohlgemerkt Jahrgang 1957! , angeht , ich gehe mit dir jede Wette ein , so wie der Hans Robert Jauß herzieht , so wäre der damals , in der Nazizeit , in gleicherweise über die Juden hergezogen. Dieser Typus Mensch ...
Bei ihrem Besuch des Athener Holocaust-Mahnmals sagte die Deutsche Außenministerin Annalena Baerbock gestern: "Die Verantwortung für die eigene Geschichte, die kennen wir, und die hat für uns keinen Schlussstrich."

Zur Verantwortung für die eigene Geschichte gehört selbstverständlich die Aufarbeitung dieser Geschichte auch dort, wo es sich - wie bei Jauß - um eine Generation handelt, die sich um die Geisteswissenschaften verdient gemacht hat und deren wissenschaftliches Werk international anerkannt ist. Die freundschaftliche Verbundenheit von Schülern und Schülerinnen sowie ehemaligen akademischen Weggefährten kann kein Argument gegen eine solche Aufbereitung sein. Daß die Universität hier für Klarheit sorgen will, ist ihr nicht vorzuwerfen. Vorzuwerfen ist ihr, daß sie für diese Klarheit gar nicht sorgt, weil sie sich vorschnell und ohne Not zur Erfüllungsgehilfen der Zahner'schen Spekulationen macht.

Die Leichtfertigkeit dieser Spekulationen nun durch die noch leichtfertigere über den "Typus Mensch" überbieten zu wollen, den Du Zahner attestierst, wird der "Verantwortung für die eigene Geschichte" - sofern man sie sich zu eigen machen will - nach meiner Einschätzung ebensowenig gerecht.




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Fr 29. Jul 2022, 16:17

Timberlake hat geschrieben :
Fr 29. Jul 2022, 02:16

In dem du deinerseits Blumenberg zum Maß aller Dinge gemacht zu haben scheinst ...
Der Schein trügt nicht. In den Lichtkreis dieses Scheins tauchen auch andere auf, etwa:

Aleida Assmann, Hannelore Schlaffer, Julia Amslinger, Eva Geulen, Melanie Möller, Barbara Merker, Maja Göpel ... (Für den Typus Weißer Alter Mann verhältnismäßig viele Frauen)




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Fr 29. Jul 2022, 17:18

Stefanie hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 20:35

Irgendwo hier im Forum hatte ich mal folgendes geschrieben, nach Arendt. Die Vernichtung der Juden sollte eine totale Vernichtung sein. Nichts sollte mehr vorhanden sein von den Menschen. Keine Menschen , keine Dinge. Keine Menschen, die Erinnerungen haben, keine Menschen, die einen Quelle sein können um Geschichten weitergegeben zu können. Es sollte keine Rezeption der Quellen mehr geben. Keine weiteren Erzählungen mehr.
Arendt hat auch darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von Geschichten sich mit jeder Weitergabe ändert bzw. Ändern kann ...
Die totale Vernichtung zielte demnach nicht allein auf die physische Vernichtung der europäischen Juden, sondern darüberhinaus auch auf die Vernichtung des Judentums mit seinen geistesgeschichtlichen Ursprüngen und der Rezeption dieser Ursprünge, die gerade für das Judentum von großer Bedeutung ist.

Die "Weitergabe von Geschichten" ist - so verstehe ich Hannah Arendt auch - mit Modifikationen und Variationen verbunden. Man mißversteht die Geschichten und die Geschichten um die Geschichte, wenn man sie lediglich als Protokolle von feststehenden Daten auffaßt.

"Wenn man von einem Geschichtsbegriff ausgeht, der das Vergangene nicht als Inbegriff abgeschlossener und auf sich beruhender Fakten ansieht, die Geschichte nicht als Analogon einer stratigraphisch [nach Art von beschriebenen Schichten] darstellbaren Struktur, wird auch das Entkräftete immer noch als eine Kraft, das Vergessene immer noch als potentielle Anamnesis [Wiedererinnerung] zuzulassen sein." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos; in "Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption"; S 16)

In der Geschichte - bestehend aus den Geschichten - gibt es nichts endgültig Überwundenes. Die Zeit der Geschichte ist nicht die reine Zeit, sondern in dieser Zeit gibt es das "Nachleben" des Vergangenen.




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Fr 29. Jul 2022, 18:01

Ein Beispiel für die Variationsbreite einer literarisch belegten Geschichte ist der Faust-Stoff. Diese Variationen wurden ja nicht dadurch möglich, daß man über den "historischen" Faust (Johann Georg Faust (1480-1541) genauestens Bescheid wußte, sondern weil man wenig wußte, die Faktenlage dünn war. Das erst machte Abwandlungen möglich. Marlowes Faust ist ein anderer als Goethes Faust und völlig anders ist dann wieder Valérys Faust. Faustisches läßt sich sogar in die Vergangenheit projizieren: Prometheus als der mythische Faust.




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Fr 29. Jul 2022, 19:15

In diesen Zusammenhang des Nachlebens paßt auch eine Stelle aus Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion:

"Wenn von der Vergangenheit nur mehr die unvollständigen und verschwommenen Erinnerungen bestehen, die wir Tradition heißen, so ist das für den Künstler ein besonderer Anreiz, denn dann ist es ihm frei geworden, die Lücken der Erinnerung nach den Gelüsten seiner Phantasie auszufüllen und das Bild der Zeit, die er reproduzieren will, nach seinen Absichten zu gestalten. Beinahe könnte man sagen, je unbestimmter die Tradition geworden ist, desto brauchbarer wird sie für den Dichter." (S.93f)




Timberlake
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Sa 30. Jul 2022, 02:19

Nauplios hat geschrieben :
Fr 29. Jul 2022, 17:18

"Wenn man von einem Geschichtsbegriff ausgeht, der das Vergangene nicht als Inbegriff abgeschlossener und auf sich beruhender Fakten ansieht, die Geschichte nicht als Analogon einer stratigraphisch [nach Art von beschriebenen Schichten] darstellbaren Struktur, wird auch das Entkräftete immer noch als eine Kraft, das Vergessene immer noch als potentielle Anamnesis [Wiedererinnerung] zuzulassen sein." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos; in "Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption"; S 16)

In der Geschichte - bestehend aus den Geschichten - gibt es nichts endgültig Überwundenes. Die Zeit der Geschichte ist nicht die reine Zeit, sondern in dieser Zeit gibt es das "Nachleben" des Vergangenen.
Dieses "Nachleben" des Vergangenen ist genau der Punkt , an dem ich Nietzsches , wie auch meine Redlichkeit festmache ..
Nauplios hat geschrieben :
Fr 29. Jul 2022, 15:59

Die Leichtfertigkeit dieser Spekulationen nun durch die noch leichtfertigere über den "Typus Mensch" überbieten zu wollen, den Du Zahner attestierst, wird der "Verantwortung für die eigene Geschichte" - sofern man sie sich zu eigen machen will - nach meiner Einschätzung ebenso wenig gerecht.
.. so wird nach meiner Einschätzung , Gerhard „Gerd“ Zahner , mit seiner Überheblichkeit , im Umgang mit Hans Robert Jauß, , diesem "Nachleben" der Nazivergangenheit , nicht gerecht . Denn Nachleben heißt zumindest für mich auch, dass sich zu eigen machen.

Obgleich sicherlich auch reine Spekulation , so mache ich mir zu eigen , dass ich damals ganz gewis nicht im Widerstand gegen die Nazis gewesen wäre , geschweige denn , dass ich Juden versteckt hätte. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss gehabt. Ganz im Gegenteil . So wie in einer Fernsehdokumentation beschrieben, so hätte ich mich als Pimpf , mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit , ganz gewiss nicht , bei der Suche nach , aus einen Eisenbahnzug geflüchteten Juden zurückgehalten. Auch könnte ich mir sehr gut vorstellen , dass ich mich als Soldat in der Waffen SS , unter dem Befehl von Hans Robert Jauß , im Rahmen der Partisanenbekämpfung , an der Massakrierung von Zivilisten beteiligt hätte.

Kürzlich lief dazu im Fernsehen eine Sendung über das Hamburger Polizei-Bataillon 101 ..



  • Hamburger Polizei-Bataillon 101:

    „Am frühen Morgen richtet Bataillonskommandeur Major Wilhelm Trapp eine Ansprache an seine Männer. Er lässt keinen Zweifel daran, worum es sich bei diesem Auftrag handelt. „Solche Aktionen lieben wir nicht“, sagt er, „aber Befehl ist Befehl.“ Und wer sich dem nicht gewachsen fühle, solle sich auf der Stelle melden. Rund 15 bis 20 Männer haben den Mut vorzutreten. Sie müssen sich von ihren Kameraden später zwar einiges an Spott anhören, aber sie werden tatsächlich freigestellt und auch nicht bestraft.


.. bei dieser Aktion bekam jeder seiner Männer eine Person zugeteilt , die er im Wald eigenhändig erschießen sollte. Ich kann dir versichern , in dem ich mich dergleichen „zu eigen machte“ , konnte ich diese Szenen genauso „nachleben“ , wie seiner Zeit die Fernsehdokumentation mit den Pimpfen.
Nauplios hat geschrieben :
Fr 29. Jul 2022, 15:59
Bei ihrem Besuch des Athener Holocaust-Mahnmals sagte die Deutsche Außenministerin Annalena Baerbock gestern: "Die Verantwortung für die eigene Geschichte, die kennen wir, und die hat für uns keinen Schlussstrich."
Dieses hautnahe Nacherleben .. wohlgemerkt nicht als Opfer, sondern als Täter! .. ist übrigens meine Version des „keinen Schlussstrichmachens“ ,
  • "Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb mißtrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, daß man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit – sondern daß es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesamt einen großen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird."
    Nietzsche .. Jenseits von Gut und Böse
Eine „redliche“ Version, bei der ich mich diesmal Ausnahmsweise nicht nur bloß auf Nietzsche , sondern auch auf dich bzw. das o.g. Zitat von Blumenberg beziehe.




Nauplios
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Sa 30. Jul 2022, 17:59

Die Vorstellung, daß die Rezeption der Quellen die Quellen der Rezeption schafft führt auf den Gedanken der Ursprünglichkeit, auf den einer Ursprungsquelle, aus der heraus die erste Rezeption erfolgt.

"Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philologisch zu klären, was 'der Mythos' ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in Rezeption übergegangen verstanden. Wenn man meint, eine solche Betrachtungsweise sei sekundär und daher auch von sekundärem Interesse, so geht man von einem Unterschied zwischen dem Objekt und seinen Verständnisweisen aus, den die Naturwissenschaften verbindlich gemacht haben, in denen jedes Resultat über einen Gegenstand seine Vorgänger verdrängt und einem 'nur noch' historischen Interesse überliefert. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften haben die wirkenden Werke keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung, weil und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprunges - zum Beispiel in einer Metaphysik der Kunst als originärer Hervorbringung, sei es mithilfe der Musen, der Magie oder der Inspiration, sei es durch das Genie selbst - mehr gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent, sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte. Um so etwas wie die 'Rückgewinnung des verlorenen Sinnes' geht es gerade nicht. (...) Das Ursprüngliche bleibt Hypothese, deren einzige Verifikationsbasis die Rezeption ist. (...) Die Antithese von schöpferischer Ursprünglichkeit und hermeneutischer Nachläufigkeit ist unbrauchbar ..." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos; in: "Terror und Spiel"; S. 28)

In die Dimension des Ursprungs können wir nicht zurück. Selbst wenn wir es könnten, wäre dort nichts zu holen, was uns einen "eigentlichen Sinn" erschließen lassen würde. Immer schon sind wir - auch dort, wo wir produzieren - in Rezeption eingebettet. Das ist eigentlich Rezeptionsästhetik in nuce.




Timberlake
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Mo 1. Aug 2022, 00:25

Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Jul 2022, 17:59
Die Vorstellung, daß die Rezeption der Quellen die Quellen der Rezeption schafft führt auf den Gedanken der Ursprünglichkeit, auf den einer Ursprungsquelle, aus der heraus die erste Rezeption erfolgt.

"Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philologisch zu klären, was 'der Mythos' ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in Rezeption übergegangen verstanden. Wenn man meint, eine solche Betrachtungsweise sei sekundär und daher auch von sekundärem Interesse, so geht man von einem Unterschied zwischen dem Objekt und seinen Verständnisweisen aus, den die Naturwissenschaften verbindlich gemacht haben, in denen jedes Resultat über einen Gegenstand seine Vorgänger verdrängt und einem 'nur noch' historischen Interesse überliefert. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften haben die wirkenden Werke keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung, weil und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprunges - zum Beispiel in einer Metaphysik der Kunst als originärer Hervorbringung, sei es mithilfe der Musen, der Magie oder der Inspiration, sei es durch das Genie selbst - mehr gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent, sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte. Um so etwas wie die 'Rückgewinnung des verlorenen Sinnes' geht es gerade nicht. (...) Das Ursprüngliche bleibt Hypothese, deren einzige Verifikationsbasis die Rezeption ist. (...) Die Antithese von schöpferischer Ursprünglichkeit und hermeneutischer Nachläufigkeit ist unbrauchbar ..." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos; in: "Terror und Spiel"; S. 28)

In die Dimension des Ursprungs können wir nicht zurück. Selbst wenn wir es könnten, wäre dort nichts zu holen, was uns einen "eigentlichen Sinn" erschließen lassen würde. Immer schon sind wir - auch dort, wo wir produzieren - in Rezeption eingebettet. Das ist eigentlich Rezeptionsästhetik in nuce.
Nach dem ich darüber geschlafen habe, versuche ich mich mal daran , daraus etwas Verwertbares für das Thema dieses Threads heraus zu arbeiten ..

Wenn ich das richtig verstehe , so würde lt. Blumenberg das „Ursprüngliche“ und zwar das , was die Nazis mit ihren „wirkenden Werken“ ursprünglich bezweckten , stets nur Hypothese bleiben. Erst auf Basis dessen , was daraus als Wirkung resultierte, kann eine Rezeption stattfinden , welche das Ursprüngliche der Nazis tatsächlich verifiziert.

Durch diese Rezeption können wir zwar nicht zurück in die Nazizeit . Gleichwohl ich schon sagen würde , dass dadurch sehr wohl etwas aus dieser Zeit zu holen ist , was uns einen "eigentlichen Sinn" erschließen lässt. Wurde doch durch diesen "eigentlichen Sinn" die Schematische Ostrakisierung überhaupt erst ermöglicht.


Wenn gleich , so wie sich diese Rezeption sich zu artikulieren vermochte, ich nur von einer bedingten Äquivalenz von Produktion und Rezeption ausgehe. Will sagen, dass die Rezeption dessen , was die Nazis produziert haben , bei allem Verständnis dafür , doch schon so sehr Opferlastig ist.

Timberlake hat geschrieben :
Sa 30. Jul 2022, 02:19
Obgleich sicherlich auch reine Spekulation , so mache ich mir zu eigen , dass ich damals ganz gewiss nicht im Widerstand gegen die Nazis gewesen wäre , geschweige denn , dass ich Juden versteckt hätte. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss gehabt. Ganz im Gegenteil . So wie in einer Fernsehdokumentation beschrieben, so hätte ich mich als Pimpf ganz gewiss nicht , bei der Suche nach , aus einen Eisenbahnzug geflüchteten Juden zurückgehalten. Auch könnte ich mir sehr gut vorstellen , dass ich mich als Soldat in der Waffen SS , unter dem Befehl von Hans Robert Jauß , im Rahmen der Partisanenbekämpfung , an der Massakrierung von Zivilisten beteiligt hätte.

.. so wie hier beschrieben , so kommen für meine “Verhältnisse“ , die Täter dabei viel zu kurz. Was ich für den Fall , dass man mit einer Rezeption beabsichtigt solche „Produktionen“ zukünftig aus zu schließen, für fatal halte.





Waren doch die Täter , offenbar nicht nur nach meiner Rezeption , ganz normale Menschen, wie du und ich , hätte ich beinahe geschrieben. Ganz normale Menschen, die sich auf einmal mit einer Schematischen Ostrakisierung konfrontiert sehen.
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 1. Aug 2022, 00:38, insgesamt 1-mal geändert.




Nauplios
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"Die Geschichten selber vollziehen sich immer nur im Medium der Wahrnehmung der
Beteiligten. Die Vorstellungen der Handelnden von dem, was sie zu tun, und von dem, was sie zu lassen haben, sind die Elemente, aus denen sich, perspektivisch gebrochen, die Geschichten zusammenfügen. Vorstellungen, Willensbildungen, Wünsche, sprachlich und vorsprachlich generiert, das Fürwahrnehmen und das Fürwahrhalten gehen allesamt in die Situation ein, aus der sich Ereignisse herauskristallisieren. Was von den verschiedenen Agenten an einer Geschichte, so wie sie entsteht, für wirklich gehalten und so in actu vollzogen wird, konstituiert pluralistisch die kommende Geschichte. Es handelt sich also um eine gegenseitige Perspektivierung aller Beteiligten, der immer eine Selektion im Bewußtsein vorausging, um überhaupt wahrnehmen und handeln zu können. Während sich Ereignisse zusammenbrauen oder Geschehnisse sich schürzen, Konflikte sich aufstauen, die dann durchbrechen, gibt es keine gemeinsame Wirklichkeit, die von den verschiedenen Beteiligten auf dieselbe Art wahrgenommen werden könnte. Die Wahrnehmungsgeschichte ist immer pluralistisch gebrochen. So vollzieht sich 'Geschichte', indem Geschehnisse sich aufstufen zu dem, was später eine Geschichte genannt werden mag. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß die Wirklichkeiten, wie sie wahrgenommen werden, im Hinblick auf das, was tatsächlich der Fall sein wird, immer schon verfehlte oder gar falsche Wirklichkeiten sind. Jene Wirklichkeiten, die man wahrnimmt, sind wegen ihrer perspektivischen Verkürzung nie so einlösbar, wie sie wahrgenommen wurden. Es handelt sich also (...) immer schon um verfehlte Wirklichkeiten. Die Realität der Geschehnisse besteht in actu aus verfehlten Wirklichkeiten." (Reinhart Koselleck; Vom Sinn und Unsinn der Geschichte; S. 16f)

Indem Koselleck hier davon spricht, daß sich Geschehnisse "aufstufen" zu dem, "was später eine Geschichte genannt werden mag", liegt hier ein Anklang an das vor, was Blumenberg die "stratigraphisch darstellbare Struktur" nannte (s.o.) Im Moment seines Geschehens, in actu sind die Geschehnisse zwar Geschehen, aber nicht Geschichte. Zur Geschichte verdichtet sich das Geschehen durch seine Rezeption. Was in den letzten Stunden vor dem Untergang der Titanic "wirklich" geschah, davon berichten uns Zeitzeugen, im Einzelnen auch sehr genau, aber all diese singulären Geschehnisse sind Bausteine für die "kommende Geschichte". Die Variationsbreite dieser Geschichte beruht u.a. darauf, was potentiell auch möglich gewesen wäre. Ob die Bordkapelle wirklich "Näher mein Gott zu Dir" gespielt hat? Gut möglich. Auch ein anderer Choral wäre gut möglich gewesen, anderes wiederum unmöglich, würde nicht passen. Die Geschichte bleibt auf Geschehnisse in actu angewiesen, "speist" sich aber aus den Geschehnisse in potentia. - Die exakte in jedweder Perspektivierung dokumentierte Zeugenschaft aller am Geschehen Beteiligter wäre das Ende der Geschichte: es gäbe nichts mehr zu erzählen.




Nauplios
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Illustrieren läßt sich das vielleicht mit einem "dunklen" Satz Kafkas:

"Wirkliche Realität ist immer unrealistisch."
(Nach Gustav Janouch; Erinnerungen an Kafka in "Neue Rundschau" 62 (1951); S. 62)




Timberlake
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Nauplios hat geschrieben :
Mo 1. Aug 2022, 00:37

Indem Koselleck hier davon spricht, daß sich Geschehnisse "aufstufen" zu dem, "was später eine Geschichte genannt werden mag", liegt hier ein Anklang an das vor, was Blumenberg die "stratigraphisch darstellbare Struktur" nannte (s.o.) Im Moment seines Geschehens, in actu sind die Geschehnisse zwar Geschehen, aber nicht Geschichte. Zur Geschichte verdichtet sich das Geschehen durch seine Rezeption.
Du hast mich offenbar noch immer nicht verstanden ..
Timberlake hat geschrieben :
Sa 30. Jul 2022, 02:19
Obgleich sicherlich auch reine Spekulation , so mache ich mir zu eigen , dass ich damals ganz gewiss nicht im Widerstand gegen die Nazis gewesen wäre , geschweige denn , dass ich Juden versteckt hätte. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss gehabt. Ganz im Gegenteil . So wie in einer Fernsehdokumentation beschrieben, so hätte ich mich als Pimpf ganz gewiss nicht , bei der Suche nach , aus einen Eisenbahnzug geflüchteten Juden zurückgehalten. Auch könnte ich mir sehr gut vorstellen , dass ich mich als Soldat in der Waffen SS , unter dem Befehl von Hans Robert Jauß , im Rahmen der Partisanenbekämpfung , an der Massakrierung von Zivilisten beteiligt hätte.

Dieses "sich zu eigen machen" hat so gut wie gar nichts mit einer Rezeption zu tun , durch das ein Geschehen zur Geschichte verdichtet wurde.


.. keine Frage , das ist eine unbequeme Eigenschaft. Wie bei allen Dingen , die man tief findet , so macht auch "das sich zu eigen machen" oder besser " das sich hineinversetzen" in eine Situation , dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.

  • "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, : so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
    Kant .. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Ist es doch so bequem , sich selbst aus diesem Geschehen heraus zu nehmen und auf diese Weise sich selbst gegenüber unmündig zu halten . Habe ich eine Rezeption , durch das ein Geschehen zur Geschichte verdichtet wurde. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.



Ich habe nicht nötig zu denken , .. andere , wie in diesem Video, werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Wenn gleich auch diese anderen sich nicht bemühen , sich selbst in die, von ihnen beschriebene Situation, hinein zu versetzen. Auch sie halten sich , sich selbst gegenüber unmündig. Diesen , von Kant ignorierten Teil , zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? halte ich für sehr viel wichtiger , als das man Gefahr läuft , sich durch ein Buch, einen Seelsorger, oder einen Arzt u.s.w. das Denken abnehmen zu lassen. Hegel war da schon sehr viel weiter ..
  • "Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes"
    Georg Wilhelm Friedrich Hegel .. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
.. wie hier ersichtlich , hat er sogar , was ich für geradezu brillant halte , die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich verknüpft.




Nauplios
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Timberlake hat geschrieben :
Mo 1. Aug 2022, 00:25

Nach dem ich darüber geschlafen habe, versuche ich mich mal daran, daraus etwas Verwertbares für das Thema dieses Threads heraus zu arbeiten ..
Gut, dann bekommst Du die Verwertungsrechte für diesen Thread und ich die Verwertungsrechte für das Unverwertbare daran.




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Lucian Wing
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Mo 1. Aug 2022, 10:07

Timberlake hat geschrieben :
Mo 1. Aug 2022, 01:45
Nauplios hat geschrieben :
Mo 1. Aug 2022, 00:37

Indem Koselleck hier davon spricht, daß sich Geschehnisse "aufstufen" zu dem, "was später eine Geschichte genannt werden mag", liegt hier ein Anklang an das vor, was Blumenberg die "stratigraphisch darstellbare Struktur" nannte (s.o.) Im Moment seines Geschehens, in actu sind die Geschehnisse zwar Geschehen, aber nicht Geschichte. Zur Geschichte verdichtet sich das Geschehen durch seine Rezeption.
Du hast mich offenbar noch immer nicht verstanden ..
Timberlake hat geschrieben :
Sa 30. Jul 2022, 02:19
Obgleich sicherlich auch reine Spekulation , so mache ich mir zu eigen , dass ich damals ganz gewiss nicht im Widerstand gegen die Nazis gewesen wäre , geschweige denn , dass ich Juden versteckt hätte. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss gehabt. Ganz im Gegenteil . So wie in einer Fernsehdokumentation beschrieben, so hätte ich mich als Pimpf ganz gewiss nicht , bei der Suche nach , aus einen Eisenbahnzug geflüchteten Juden zurückgehalten. Auch könnte ich mir sehr gut vorstellen , dass ich mich als Soldat in der Waffen SS , unter dem Befehl von Hans Robert Jauß , im Rahmen der Partisanenbekämpfung , an der Massakrierung von Zivilisten beteiligt hätte.

Dieses "sich zu eigen machen" hat so gut wie gar nichts mit einer Rezeption zu tun , durch das ein Geschehen zur Geschichte verdichtet wurde.


.. keine Frage , das ist eine unbequeme Eigenschaft. Wie bei allen Dingen , die man tief findet , so macht auch "das sich zu eigen machen" oder besser " das sich hineinversetzen" in eine Situation , dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.

  • "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, : so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
    Kant .. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Ist es doch so bequem , sich selbst aus diesem Geschehen heraus zu nehmen und auf diese Weise sich selbst gegenüber unmündig zu halten . Habe ich eine Rezeption , durch das ein Geschehen zur Geschichte verdichtet wurde. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.



Ich habe nicht nötig zu denken , .. andere , wie in diesem Video, werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Wenn gleich auch diese anderen sich nicht bemühen , sich selbst in die, von ihnen beschriebene Situation, hinein zu versetzen. Auch sie halten sich , sich selbst gegenüber unmündig. Diesen , von Kant ignorierten Teil , zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? halte ich für sehr viel wichtiger , als das man Gefahr läuft , sich durch ein Buch, einen Seelsorger, oder einen Arzt u.s.w. das Denken abnehmen zu lassen. Hegel war da schon sehr viel weiter ..
  • "Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes"
    Georg Wilhelm Friedrich Hegel .. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
.. wie hier ersichtlich , hat er sogar , was ich für geradezu brillant halte , die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich verknüpft.
Du stülpst den Geschehnissen in der perspektivischen Wahrnehmung, im perspektivischen Vollzug, in der perspektivischen Auslassung von vornherein ein nicht-perspektivisches Sollen aus der nachträglichen Perspektive der zur Historie verdichteten Geschichten über. Das dichtet dem Individuum ein Wissen oder die Möglichkeit eines solchen über das, was sich erst zur Geschichte verdichtet, an. Das Individuum müsste, um es mit Lessings Schlagwort zu sagen, die Sinngebung des Sinnlosen schon im Voraus geleistet haben, um über den perspektivischen Moment hinaus für sein Handeln moralisch haftbar gemacht werden zu können. Im Prinzip scheint mir ein solcher Gedanke dem Wesen der Kollektiv zugrundezuliefen.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

Timberlake
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Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

Di 2. Aug 2022, 20:26

Erasmus hat geschrieben :
Mo 1. Aug 2022, 10:07
Du stülpst den Geschehnissen in der perspektivischen Wahrnehmung, im perspektivischen Vollzug, in der perspektivischen Auslassung von vornherein ein nicht-perspektivisches Sollen aus der nachträglichen Perspektive der zur Historie verdichteten Geschichten über. Das dichtet dem Individuum ein Wissen oder die Möglichkeit eines solchen über das, was sich erst zur Geschichte verdichtet, an. Das Individuum müsste, um es mit Lessings Schlagwort zu sagen, die Sinngebung des Sinnlosen schon im Voraus geleistet haben, um über den perspektivischen Moment hinaus für sein Handeln moralisch haftbar gemacht werden zu können. Im Prinzip scheint mir ein solcher Gedanke dem Wesen der Kollektiv zugrundezuliefen.
Apropos .. perspektivischen Wahrnehmung, im perspektivischen Vollzug, in der perspektivischen Auslassung .. im Forum Philowelt.de hatte ich mich seiner Zeit , unter dem Namen "Perspekt" u. a auch auf Grundlage dieser "Perspektiven" , angemeldet. Das mal nur so nebenbei.

Wo wir schon mal bei Lessing sind ..
zeno.org hat geschrieben :
THEOPHAN. Werden Sie es übel nehmen, Adrast, wenn ich mich endlich über den stolzen Kaltsinn beklage, den Sie nicht aufhören gegen mich zu äußern? Schon seit Monaten sind wir in Einem Hause, und warten auf einerlei Glück. Zwei liebenswürdige Schwestern sollen es uns machen. Bedenken Sie doch, Adrast! können wir noch dringender eingeladen werden, uns zu lieben, und eine Freundschaft unter uns zu stiften, wie sie unter Brüdern sein sollte? Wie oft bin ich nicht darauf bestanden? – –

ADRAST. Eben so oft haben Sie gesehen, daß ich mich nicht einlassen will. Freundschaft? Freundschaft unter uns? – – Wissen Sie, muß ich fragen, was Freundschaft ist?

THEOPHAN. Ob ich es weiß?

ADRAST. Alle Fragen bestürzen, deren wir nicht gewärtig sind. Gut, Sie wissen es. Aber meine Art zu denken, und die Ihrige, diese kennen Sie doch auch?

THEOPHAN. Ich verstehe Sie. Also sollen wir wohl Feinde sein?

ADRAST. Sie haben mich schön verstanden! Feinde? Ist denn kein Mittel? Muß denn der Mensch eines von beiden, hassen, oder lieben? Gleichgültig wollen wir einander bleiben. Und ich weiß, eigentlich wünschen Sie dieses selbst. Lernen Sie wenigstens nur die Aufrichtigkeit von mir.

Lessing .. Der Freigeist
Was würdest du denn meinen, mit wem von uns beiden würdest du die Rolle des Theophan bzw. des Adrast besetzen?

Dazu ein Tipp ... wenn man deine , wie auch Nauplios Beiträge , mit den meinen vergleicht, von welchen könnte man die Aufrichtigkeit , im Umgang mit der Naziverganheit , im Allgemeinem und bezüglich dem Umgang mit Hans Robert Jauss , im Besonderen lernen ...

Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27
"Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher über seine Vergangenheit gesprochen." (Dieter Henrich; Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie; S. 101)

"Was mich zu der Entscheidung gebracht hat, in die Waffen-SS einzutreten, war keine wirkliche Anhängerschaft an die Nazi-Ideologie." (Hans Robert Jauss im Gespräch mit Maurice Olender; Le Monde; 06. September 1996)

"Nach heutiger Rechtsauffassung zu NS-Verbrechen, die das funktionale Sein und Mitwirken am Tatort als Mittäterschaft versteht ('funktionelle Mittäterschaft'), kann es keinen Zweifel daran geben, daß Jauss ein Kriegsverbrecher war." (Jens Westemeier; Hans Robert Jauss. Jugend, Krieg und Internierung; S. 272)
Wohlgemerkt eine Aufrichtigkeit , jenseits heutiger Rechtsauffassung. Eine Rechtsauffassung, die, in dem sich klar in Feindschaft zu den Nazis befindet, jenes Mittel vermissen lässt , von der ADRAST bzw. Lessing spricht. Auch die schematische Ostrakisierung würde man wohl kaum mit einer solchen Mitte , zwischen Feindschaft und Freundschaft zu den Nazis assoziieren. Offenbar muss der Mensch tatsächlich eines von beiden, hassen oder lieben!.
Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27

Zahners Stück, die Umstände seiner Aufführung an der Universität Konstanz, das Gutachten Westemeiers sowie die Reaktionen darauf und die Vorgeschichte zum "Fall Jauß" will ich in diesem Thread kurz darstellen, um die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern ins Allgemeine aufzuweiten.
Somit dieses "ins Allgemeine aufzuweiten" wohl nur ein frommer Wunsch bleiben wird. Zumindest wenn dieses Allgemeine , was ja so abwegig nicht ist , an Hand dieser Mitte zwischen Feindschaft und Freundschaft bzw. hassen und lieben ableitet. Wir reden hier also im Grunde genommen von Methaphysik ..
  • Metaphysik
    Grunddisziplin der Philosophie. Metaphysische Systementwürfe behandeln in ihren klassischen Formen die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie, nämlich die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen oder „ersten Begründungen“, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie von Sinn und Zweck der gesamten Realität bzw. allen Seins.
.. mit Feindschaft und Freundschaft bzw. Hass oder Liebe im Rücken , wird man sich diesen "allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie von Sinn und Zweck der gesamten Realität bzw. allen Seins" ..vermutlich kaum annähern. Ganz im Gegenteil.




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Lucian Wing
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Di 2. Aug 2022, 21:40

Wie ging das in Fargo? Jesses!
Perspekt!
Man hätte es ahnen können mit der Nietzscherei.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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