Emergenz

Im Zettelkasten können Zitate und Begriffe hinterlegt werden, auf die du andere Mitglieder des Forums aufmerksam machen möchtest.
Nauplios
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So 18. Sep 2022, 19:41

AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 19:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 18:54
AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 17:08

Hallo Nauplios.
Was würdest du sagen, wie wichtig sind Begriffe für die Philosophie?
Was ist der Unterschied zwischen einem Begriff in der Philosophie und einem genau definierten Begriff in der Mathematik?

Wollte die Philosophie nur noch "genau definierte Begriffe" zulassen, ginge der cartesianische Traum in Erfüllung. Es spricht jedoch nichts dagegen, auch Träume zuzulassen. ;)
Ich ging noch weiter als Descartes und dachte mir, es wäre gut, die Philosophie auf philosophischen Axiomen aufzubauen. Unter einem Axiom verstehe ich eine Aussage, die allgemein akzeptiert wird und nicht weiter begründbar ist. (Zum Beispiel. Alle Menschen wollen von Natur aus arbeiten. :) ). Aber du hast mich darauf gebracht, dass das vielleicht gar nicht gut wäre oder gar nicht geht. Ich lese ja ab und zu in der Metaphysik von Aristoteles. Ich glaube, er befasst sich dort auch mit dem Sinn von Begriffen (Definitionen). Aber wäre vielleicht eine axiomatische Philosophie als Teildisziplin denkbar?
Aber wenn die Philosophie den Anspruch hat, über den Begriffen zu stehen, was ist sie dann? So etwas wie eine Superwissenschaft? Wie kann man sie dann fassen?
Die Vorstellung einer "axiomatischen Philosophie" - ich vermute, sie ist einem Ungenügen entwachsen an der bisherigen Philosophie, vielleicht sogar einem Unbehagen daran, daß nach fast drei Jahrtausenden immer noch keine festumrissene Terminologie, keine belastbaren Ergebnisse, keine einheitlichen Standards der Methode u.ä. vorliegen, die Philosophie also immer noch "Tummelplatz ... ohne viel Siege" (Kant) ist. Aus dieser Perspektive mag die Philosophie als Stückwerk erscheinen, durchaus. "Philosophie ist, worauf man beinahe von selbst gekommen wäre," schreibt Blumenberg, "Überführung von Selbstverständlichkeit in Verständlichkeit" war das Programm seiner Phänomenologie. Die "Kunst der Resignation" übt sich im Aufenthalt zwischen Verzicht auf hochfliegende Sinnerwartung an das philosophische Denken und seiner Verachtung. Mit Stückwerk läßt sich leben. ;)




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AufDerSonne
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So 18. Sep 2022, 19:53

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 19:41
Die "Kunst der Resignation" übt sich im Aufenthalt zwischen Verzicht auf hochfliegende Sinnerwartung an das philosophische Denken und seiner Verachtung. Mit Stückwerk läßt sich leben. ;)
Naja, Stückwerk finde ich dann doch zu wenig. Ich glaube, die Philosophie kann einen großen, schwierigen Gedanken durchaus erfassen. Ich muss zugeben, ich habe noch nicht viele solche Gedanken von Philosophen gefunden. Das kommt aber auch daher, dass ich mich zu wenig mit Philosophie beschäftige.
Wenn man den Einfluss gewisser Philosophen auf die Menschheit anschaut, dann scheint sie eben doch eine gewisse "Macht" zu haben. Zum Beispiel Platon (Politik), Marx (auch Politik) und so. Kant, die Menschenwürde und so weiter.
Oder meinst du nicht?



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Nauplios
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So 18. Sep 2022, 19:54

Aber wir kommen vom Wege ab, AufDerSonne. Mir ging es eigentlich auch nur um eine Ermunterung, nämlich um die, "in der Philosophie" (!) nach einer Umschreibung zu suchen, wie man das Verhältnis von begrifflicher und figurativer Rede fassen könnte. Was sich beobachten läßt (hier bei der Emergenz, aber auch bei der Künstlichen Intelligenz) ist eine Abkopplung genuin philosophischer Betrachtungsweisen zugunsten wissenschaftlicher Konventionen. Damit ist die Legitimität von Wissenschaft (übrigens auch von Technik) ja keineswegs infrage gestellt. Ich sehe es mehr als eine Art Erinnerungsservice an die Vielfalt des philosophischen Denkens und seine Sprach- und Denkformen.




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AufDerSonne
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So 18. Sep 2022, 20:03

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 19:54

Was sich beobachten läßt (hier bei der Emergenz, aber auch bei der Künstlichen Intelligenz) ist eine Abkopplung genuin philosophischer Betrachtungsweisen zugunsten wissenschaftlicher Konventionen. Damit ist die Legitimität von Wissenschaft (übrigens auch von Technik) ja keineswegs infrage gestellt.
Meinst du jetzt, dass wissenschaftliche Konventionen in die Philosophie einfließen oder philosophische Betrachtungsweisen in die Wissenschaft?



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Nauplios
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So 18. Sep 2022, 21:24

AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 20:03
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 19:54

Was sich beobachten läßt (hier bei der Emergenz, aber auch bei der Künstlichen Intelligenz) ist eine Abkopplung genuin philosophischer Betrachtungsweisen zugunsten wissenschaftlicher Konventionen. Damit ist die Legitimität von Wissenschaft (übrigens auch von Technik) ja keineswegs infrage gestellt.
Meinst du jetzt, dass wissenschaftliche Konventionen in die Philosophie einfließen oder philosophische Betrachtungsweisen in die Wissenschaft?
Philosophie und Wissenschaft sind keine sich ausschließenden Gegensätze. Und natürlich gehen die Erkenntnisse, welche die Naturwissenschaften auf methodisch abgesichertem Wege gewinnen, die Philosophie etwas an; sie kann diese Erkenntnisse nicht ignorieren. - Nur ist ja die Philosophie selbst nicht wiederum eine Naturwissenschaft. Sie verfügt ihrerseits nicht über eine einheitliche Methode (sofern sie überhaupt ein Methodenideal hat). Sie ist auch keine "Superwissenschaft" o.ä. Sie hat es aber auch nicht nur mit den Wissenschaften zu tun, sondern auch mit der Literatur, mit der Kunst, mit den Philologien, mit der Religion, dem Mythos, der Geschichte, dem Bewußtsein ... eben mit dem menschlichen Dasein und seinem In-der-Welt-Sein im ganz allgemeinen Sinne - und eben nicht nur mit dem Gehirn oder mit Zellen. -




Nauplios
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So 18. Sep 2022, 21:51

Emergenz - vielleicht noch abschließend eine Frage:

Wenn wir Bachs Choral "Wir setzen uns mit Tränen nieder" aus der Matthäuspassion hören, was hören wir dann? Frequenzen in einem Spektrum, in dem das menschliche Ohr empfangsbereit ist?

Man kann die Frage mit "ja" beantworten, muß aber auf die Rückfrage "Mehr nicht?" gefaßt sein. ;)




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AufDerSonne
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So 18. Sep 2022, 21:53

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:24
... eben mit dem menschlichen Dasein und seinem In-der-Welt-Sein im ganz allgemeinen Sinne - und eben nicht nur mit dem Gehirn oder mit Zellen. -
Das In-der-Welt-sein (eines Menschen). Interessante Sichtweise. Sich als Teil von etwas begreifen. Eingebettet sein in etwas. :o
Oder: Das Im-Bett-Sein. :D
Ich gehe nämlich langsam schlafen. Schönheitsschlaf ist wichtig, auch für Männer. :D



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Burkart
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So 18. Sep 2022, 22:27

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:51
Emergenz - vielleicht noch abschließend eine Frage:

Wenn wir Bachs Choral "Wir setzen uns mit Tränen nieder" aus der Matthäuspassion hören, was hören wir dann? Frequenzen in einem Spektrum, in dem das menschliche Ohr empfangsbereit ist?

Man kann die Frage mit "ja" beantworten, muß aber auf die Rückfrage "Mehr nicht?" gefaßt sein. ;)
Akkustisch aufnehmen tun wir die Frequenzen. Aber:
- Wir erinnern die einzelnen Töne
- Wir erinnern (z.B. Drei-)Klänge
- Wir erinnern Tonsequenzen
- Wir haben ein Gefühl für Harmonien
- Wir kennen das ganze Stück mehr oder weniger
- Wir freuen uns über das Stück
- Wir überlegen vielleicht wieder mehr Musik zu hören
- Wir überlegen vielleicht selbst wieder ein Instrument zu spielen
Usw. :)



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Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Burkart
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So 18. Sep 2022, 22:31

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 16:59
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40

Vielleicht ist das Problem aber auch unsere Vorstellung von dem, was Begriffe leisten, wo die Grenzen der Begriffsbildung liegen,
Mag sein, der Unterschied ist für mich hier nicht erheblich.
Die Leistung des Begriffs liegt u.a. darin, Gegenstände (im allerweitesten Sinne, also auch Sachverhalte u.ä.) zu vergegenwärtigen, die im Moment solcher Vergegenwärtigung nicht anwesend sind. Man kann über sie sprechen, Handlungen an ihnen planen, sie klassifizieren, sie definieren ... auf Distanz. Der Begriff ermöglicht eine actio per distans, wie bei einer Falle, deren Spezifikationen am Beutetier ausgerichtet sind.

Die Funktion des Begriffs - insbesondere in wissenschaftlichen Kontexten - ist u.a. die Ermöglichung weitgehend störungsfreier Kommunikation, d.h. Begriffe sind auf Eindeutigkeit ausgerichtet. Nach cartesianischen Vorgaben sollen sie klar und deutlich sein.
Alles im Allgemeinen schön und gut, nur ging es hier um einen speziellen Kontext, auf den ich mich bezog. Aber der ist hier verloren gegangen... Macht nix ;)



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Körper
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So 18. Sep 2022, 22:32

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:51
Wenn wir Bachs Choral "Wir setzen uns mit Tränen nieder" aus der Matthäuspassion hören, was hören wir dann? Frequenzen in einem Spektrum, in dem das menschliche Ohr empfangsbereit ist?
Nein, Schallwellen in einem Frequenzspektrum wirken auf einzelne Sinneszellen ein.
Zu all diesen Einwirkungen entwerfen wir die plausibelste Reaktion: die Überzeugung vom Hören der Matthäuspassion.

Alle Veränderungen der Schallwellen sind in den Einwirkungen enthalten und so folgt unser Nervensystem all den Details, die der Komponist aufgestellt hat und auch allen Details, die von den Musikern umgesetzt wurden.

Der Komponist und die Musiker kommunizieren mit uns, ähnlich wie bei Schrift.
Es ist aber jeder Hörer einzeln, der aus den vielen Einzel-Einwirkungen auf die Ideen des Komponisten und die Fähigkeiten der Musiker schliesst und seine persönliche Überzeugung aufbaut.

Das Ganze: "die Matthäuspassion" existiert nicht, sondern wir reagieren nur entsprechend.
Es ist der Beobachter, der die Reaktion zum Ganzen durchführt, ohne dass ein Ganzes vorliegt, sondern nur Details.

"Musik hören" ist ein Beobachtungsvorgang, keine Phänomenal-Existenz-Begegnung.

Bist du jetzt enttäuscht, dass du nichts von deinem gewohnten Weltzugang aufgeben, sondern nur mit ein wenig mehr Durchblick in Bezug auf dich selbst unterwegs sein musst?




Burkart
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So 18. Sep 2022, 22:43

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 18:06
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40
... und daß das Sagbare mehr ist als das, was sich über Definitionen auf den Begriff bringen läßt.
Hast du dafür (ein) Beispiel(e)?
"Ein Greis fällte einst Holz, lud es sich auf und ging eine lange Strecke. Der Weg ermüdete ihn. Er lud seine Last ab und rief nach dem Tod. Der erschien alsbald und fragte, weshalb er ihn gerufen habe. Der Greis antwortete: Um mir die Last wieder aufzuladen."

Diese Fabel des Äsop haben wir vor einem Jahr mal hier im Forum besprochen. Natürlich kommen darin Begriffe wie Holz, Weg u.ä. vor, aber das, was die Fabel "sagen" will, was sie zum "Ausdruck" bringen will (Expressivität) ist ja etwas anderes. Wir können diese Geschichte deuten, aber diese Deutung ist nicht angewiesen auf ein festumrissene Definition von "Holz" und "Weg". Es reicht unser Vorverständnis. Auch der sprechende Tod überrascht uns eigentlich nicht; in Fabeln ist mit Allegorien zu rechnen. Das Verstehen oder vielleicht besser ein Verstehen der Fabel ist möglich, auch wenn wir nicht genau wissen, ob es Buchenholz oder Eichenholz war, was der Greis aufgeladen hatte. Auch sein Alter spielt für das Verstehen keine Rolle.

Das Sagen des Dichters ist nicht in erster Linie auf das Gelingen von Kommunikation aus (inwieweit und auf welche Weise zwischen dem Hörer/Leser und dem Autor nicht doch eine "kommunikative" Verbindung besteht, sei an dieser Stelle mal unberücksichtigt), sondern darauf, etwas "zur Sprache zu bringen". Noch deutlicher wird das beispielsweise bei der Betrachtung eines Gedichts,
L’Aprés-midi d’un faune von Mallarmé beispielsweise ...

Nun könnte man und wird man wahrscheinlich einwenden: Das ist ja auch Poesie. Ja, aber ist das philosophische Denken nicht das, was sich im aufgespannten Denkraum zwischen Begriff und seiner Hoffnung auf Eindeutigkeit und Poesie mit ihrer Tendenz zur Mehrdeutigkeit ereignet, ohne mit der Poesie zur Ununterscheidbarkeit zu verschmelzen und ohne eine Wissenschaft "wie jede andere" zu sein?
Mal abgesehen von dem Aspekt der Poesie...
Dein Sagbares, was mehr ist: Was ist das?
Ist es unsere Interpretation (der/einer Geschichte)?
Ist es unsere Erfahrung, die wir mit einbringen?
Ist es vielleicht ein Gefühl?
Oder was ist es?



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Burkart
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So 18. Sep 2022, 22:46

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 17:20
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40
... daß es Begriffe gibt, zu denen es keine Anschauungen gibt
Keine direkten ist sicher richtig. Die Frage ist allerdings, ob wir nicht für alles irgendwelche indirekten Anschauungen haben ...
Solche "indirekten Anschauungen" leisten beispielsweise Metaphern, sprachliche Bilder, die etwa eine Totalität ver-anschaulichen, wie etwa Welt, Geschichte, Gesellschaft usw. Metaphern, wie überhaupt alle Formen von Unbegrifflichkeit haben ein größeres Deutungsbedürfnis; sie haben keine Verpflichtung auf Eindeutigkeit, sondern gelten als mehrdeutig. Sie haben weniger diskursiven, eher expressiven Charakter, bringen etwas zum Ausdruck, was "ausgelegt" werden kann. Begriffe können präzise sein, Metaphern prägnant.
Ja, schon...
...aber du schriebst "zu denen es keine Anschauungen gibt". Inwiefern (wann...) keine?



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sybok
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Mo 19. Sep 2022, 00:17

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:51
Emergenz - vielleicht noch abschließend eine Frage:

Wenn wir Bachs Choral "Wir setzen uns mit Tränen nieder" aus der Matthäuspassion hören, was hören wir dann? Frequenzen in einem Spektrum, in dem das menschliche Ohr empfangsbereit ist?

Man kann die Frage mit "ja" beantworten, muß aber auf die Rückfrage "Mehr nicht?" gefaßt sein. ;)
Doch, mehr. Aber irgendwie ja auf einer anderen "Ebene", nicht? Da wären wir ja gerade wieder beim Erleben von Qualia aus dem KI thread. Ich sehe es so, dass wir uns hier quasi innerhalb von Erkenntnistheorie bewegen. Ich kann Nachvollziehen, wenn man sagt, dass auch da Kultur, Kunst, Literatur etc. eine Rolle spielen, indem sie auch bezüglich Erkenntnis beispielsweise ausdrücken können, was nicht oder kaum formalisierbar ist. Ich fand dein Satz "Wörter können präzise, Metaphern prägnant sein." erhellend. Aber wie bringt man das zusammen, das meinte ich auch mit "Hintergrundphilosophie": Es kann ja, wenn es um Erkenntnis geht, nicht das Chaos, die maximale Entropie herrschen, oder? Also sonst gäbe es ja quasi per Definition keine Erkenntnis. Und welche Erkenntnis liefert da Literatur und Kunst - vielleicht eine Bestätigung auf der Ebene der Intuition, der Ahnung? Aber wie geht man damit um, denn Kunst und Literatur haben ja auch keinen Anspruch auf Konsistenz, und dann ist man glaube ich ja eben schnell im Chaos.
Wieder mit dem KI thread im Hinterkopf gedacht, ich verstehe die Position, die sozusagen - nach meinem Eindruck jedenfalls - eben im Kern auf irgendwelche Emergenzphänomene pocht, glaub ich selber eigentlich auch, aber die Art und Weise, wie das präsentiert wird, erscheint mir strukturlos und beinahe destruktiv - Richtung Chaos eben (ist kein Vorwurf an Personen, ich schliesse mich ein). Der Beitrag der Wissenschaft zum Erkenntnisprozess hat ja schon was gebracht, in irgendeiner Form berücksichtigt sollte das mMn weiterhin werden. Wie bringt man das "Mehr" beim Musik hören in die Erkenntnis ein? Ist wirklich keine Art der Formalisierung möglich, und wenn nicht, bringt es einen Erkenntnisbeitrag?




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:24
Philosophie und Wissenschaft sind keine sich ausschließenden Gegensätze.
Philosophie ist selbst eine Wissenschaft. Ein weiteres Beispiel für eine Wissenschaft ist die Musikwissenschaft.




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Jörn Budesheim
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sybok hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 00:17
Ich sehe es so, dass wir uns hier quasi innerhalb von Erkenntnistheorie bewegen.
Inwiefern zählt Musik zur Erkenntnistheorie? Oder wie meinst du das?




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AufDerSonne
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Mo 19. Sep 2022, 07:37

Was bedeutet eigentlich Emergenz?
Ich habe auf Wikipedia nachgeschaut. Dort wird man nicht so recht schlau daraus.
Irgendwie bilden viele Teile etwas Neues?



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Burkart
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Mo 19. Sep 2022, 08:40

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 06:20
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 21:24
Philosophie und Wissenschaft sind keine sich ausschließenden Gegensätze.
Philosophie ist selbst eine Wissenschaft.
Interessanterweise gibt es Leute, die die Philosophie nicht als Wissenschaft einordnen. Hier im Science-Blog gibt es einen Text mit großer anschließender Diskussion dazu (von 2010). Interessant fand ich den allerletzten Kommentar (Nr. 330), Hervorhebungen von mir:

"Ich möchte noch mal auf die eigentliche Frage zu Philosophie als Wissenschaft oder nicht eingehen. Ein wichtiger Punkt der bisher fehlt ist, dass Philosophie als die die “Einheit des Denkens” suchende Übung eben keiner wissenschaftlichen Funktionalität unterliegt. Wenn Biologie oder Physik auf der Suche nach “Wahrheit” im Sinne ihrer Prämissen ist, stellt die Philosophie genau diese Prämissen in Frage. Daher hat die Philosophie immer die “Möglichkeit” fundamental-ontologisch zu arbeiten, dabei kann nur die Philosophie so tief in die grundlegende Suche nach dem “Wesen des Menschen” einsteigen. Alle anderen Wissenschaften setzen hier schon ein Bild voraus. Die Philosophie muss dies eben immer hinterfragen.

Daher ist die Philosophie keine Wissenschaft auch wenn heutige wissenschaftliche Arbeit eben verlangt sich an Standards zu halten, die vereinbart wurden (und an die sich auch Philosophen halten, zitieren, etc). Die Finalität worauf Philosophie aber abzielt ist nicht Wissen zu schaffen, sondern Wissen selbst wieder zu hinterfragen."

Dazu fällt mir gerade ein: Sind wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht solche, die man falsifizieren können soll? Das scheint mir bei der Philosophie z.T. schwierig bis unmöglich.



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Burkart
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Mo 19. Sep 2022, 08:43

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 07:37
Was bedeutet eigentlich Emergenz?
Eine gute Frage :)
Ich habe auf Wikipedia nachgeschaut. Dort wird man nicht so recht schlau daraus.
Irgendwie bilden viele Teile etwas Neues?
Genau, "irgendwie" ;) Mir ist der Begriff auch ein wenig suspekt, auch weil mal das Neue nicht erklärbar sein soll aus den Teilen, mal aber ist das schon erlaubt...



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Burkart
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Mo 19. Sep 2022, 09:00

sybok hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 00:17
Wieder mit dem KI thread im Hinterkopf gedacht, ich verstehe die Position, die sozusagen - nach meinem Eindruck jedenfalls - eben im Kern auf irgendwelche Emergenzphänomene pocht, glaub ich selber eigentlich auch, aber die Art und Weise, wie das präsentiert wird, erscheint mir strukturlos und beinahe destruktiv - Richtung Chaos eben (ist kein Vorwurf an Personen, ich schliesse mich ein).
Hast du eine Idee, wie man das Chaos dort gut bekämpfen könnte? Ich finde einen strukturierten Zugang zu(r) KI auch besser.

Allerdings muss ich schon mal ankündigen, dass ich vom kommenden Mittwoch bis zum 3.10. offline sein werde und in der Zeit nicht mitdiskutieren kann.



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sybok
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Mo 19. Sep 2022, 10:20

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 06:40
Inwiefern zählt Musik zur Erkenntnistheorie? Oder wie meinst du das?
Ich habe den Kontext dieser Diskussion und dem Gespräch in dem verlinkten Video, bisher zumindest, so verstanden: Nauplios fragt ja, ob da nicht mehr ist. Ich kann zwar beispielsweise die Augen schliessen und die Musik einfach geniessen, sozusagen "Musik Musik sein lassen". Aber dann bleibt, falls überhaupt, das "Mehr" sehr persönlich, nicht klassifiziert, willkürlich, dann lebt das "Mehr" nur innerhalb meines eigenen kleinen Mikrokosmos. Wenn wir aber einen gewissen Konsens herstellen möchten, dann muss ich doch die Augen öffnen, hinsehen und reflektieren warum ich sagen möchte, dass da eben mehr ist, mich fragen woher es kommt, worin es lebt und warum es wahrscheinlich ist, dass es Andere auch empfinden.
Burkart hat geschrieben :
Mo 19. Sep 2022, 08:40
Daher ist die Philosophie keine Wissenschaft auch wenn heutige wissenschaftliche Arbeit eben verlangt sich an Standards zu halten, die vereinbart wurden (und an die sich auch Philosophen halten, zitieren, etc). Die Finalität worauf Philosophie aber abzielt ist nicht Wissen zu schaffen, sondern Wissen selbst wieder zu hinterfragen."
Das würde ich als viel zu eng empfinden. Philosophie ist doch sozusagen unser Metasystem. Philosophie schafft mMn schon auch Wissen, und hinterfragt, konsolidiert und verwaltet Wissen. Darum ist sie doch ja auch fähig, die wissenschaftlichen Standards und Methodiken überhaupt erst zu setzen, woher sollen die sonst auch kommen? Diese typischen Ansprüche die wir stellen, Falsifizierbarkeit oder Replizierbarkeit, das sind ja Forderungen die aus der Philosophie heraus an die Wissenschaften herangetragen wurden.




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