AndreaH hat geschrieben : ↑ Mo 21. Nov 2022, 01:04
Husserl hat mit seiner Wesensschau eine sichere Methode entwickelt auf ein anderes Fundament zu bauen. Wurde dieses Sinnesfundament wie Husserl es anlegte, wie soll ich es ausdrücken "zu sehr vernachlässigt" diese Methode anzuwenden?
Wenn man mal von der sinnlichen Anschauung eines empirischen Gegenstandes ausgeht, dann sehen wir ja immer etwas Konkretes. Nehmen wir wieder den Tisch: der Tisch, an dem ich in diesem Moment sitze, ist ein
individueller Gegenstand. Dieser Tisch hat bestimmte, spezifizierbare Eigenschaften. Er hat eine bestimmte Höhe, vier Beine, ein bestimmtes Gewicht, ein bestimmtes Alter usw. Diese Eigenschaften sind meßbar, zählbar, man könnte ihn wiegen u.ä. -
All diese Eigenschaften sind zufällige Eigenschaften. So ist der Tisch, der zuhause in meinem Garten steht ein anderer: seine Platte ist kleiner, ebenso seine Höhe, er hat auch nur drei Beine ... Bei Dir zuhause steht vermutlich auch ein Tisch. Auch er ist ein individueller Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften.
Drei Tische mit drei unterschiedlichen Eigenschaften. Wenn man nun all diese Eigenschaften wegläßt, was ist dann noch sinnlich erfahrbar? - Nichts. Es wäre ja ein Tisch von einer unbestimmten Größe, einem unbestimmten Gewicht, mit einer unbestimmten Anzahl von Beinen ...
Einen solchen "Tisch" können wir sinnlich nicht wahrnehmen. In der Wirklichkeit kann es ihn nicht geben. Deshalb ist jetzt Phantasie gefragt; denn in der Phantasie kann ich all diese zufälligen, an einen individuellen Gegenstand gebundenen Eigenschaften fortlassen. Anders als bei der sinnlichen Wahrnehmung, bleibt nach dieser Reduzierung nämlich doch noch etwas übrig: das Wesen des Tisches.
Ich kann mir natürlich einen 12 Meter hohen Tisch in meiner Phantasie vorstellen; doch ist das dann noch ein Tisch? - Dann ist es ein Podest. Daran könnte niemand sitzen und frühstücken. Ich kann mir vielleicht auch einen Tisch mit 17 Beinen vorstellen, die alle 2 Zentimeter lang sind. Das ist aber dann auch kein Tisch. Vielleicht ein Kunstwerk. - Der phantasierte Tisch kann recht unterschiedlich aussehen, aber er kann auch nicht x-beliebig aussehen. Der Tisch hat
wesentliche Eigenschaften, damit er überhaupt ein Tisch ist. Dieses Wesen kommt in der sinnlichen Wahrnehmung von Tischen gar nicht vor; es gibt da nur individuelle Tische unterschiedlichster Größe, Farbe, Gewicht. Es sind individuelle, zufällige Ausprägungen und Gestaltungen dessen, was das Wesen des Tisches ausmacht. Dieses Wesen jedoch ist nur mit Hilfe der Phantasie erreichbar; einen "wesentlichen Tisch" gibt es in der Wirklichkeit nicht.
Um also an das Wesen einer Sache (die selbstverständlich auch komplexer und anspruchsvoller sein kann als ein Tisch) heranzukommen, muß man von der konkreten Sache absehen (da hat man ja immer nur konkrete, individuelle Gegenstände, die so oder auch anders sein können, mithin zufällig sind). Dieses Absehen, dieses Ausblenden drückt Husserl auch so aus: man muß die Welt in ihrer konkreten Existenz "einklammern". Nicht bezweifeln, nicht leugnen, sondern nur "einklammern", vorübergehend von ihr absehen. Etwas anspruchsvoller nennt er es auch ἐποχή, Epoché (Zurückhaltung), von ἐπέχω (anhalten, zurückhalten).
Das Wesen eines Gegenstandes nennt er εἶδος, hier in der Bedeutung von Form (das Wesen als bloße Form ohne konkreten Inhalt).
Die Zurückführung von den zufälligen Ausprägungen des Wesens, seinen konkreten Inhalten auf die bloße Form, auf das εἶδος nennt er "Reduktion" und das Herausarbeiten dieses Wesens auch "Ideation", "eidetische Reduktion" oder eben "Wesensschau".