"Verstehen" - (wie sehr) ist es persönlich geprägt? (Und allgemein)

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
Burkart
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So 20. Nov 2022, 22:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 14:13
ADS hat geschrieben : Das Erstaunliche ist, dass wir meist sehr gut merken, ob wir etwas verstanden haben oder nicht. Woher kommt das?
Burkart hat geschrieben : Na ja, wir ordnen etwas ein und prüfen, ob es passt. Finden wir keinen Widerspruch, (be-)merken wir, dass es passt... zumindest so lange ggf., bis wir doch ein gedankliches Problem feststellen.
Vieles was unser Existenz als Mensch betrifft, verstehen wir wohl von vornherein. Entsprechend einiger Versuche von Tomasello verstehen bereits 18 Monate alte Kinder sehr gut, ob jemand Hilfe benötigt. Dieses gegenseitige Verstehen, dass wir in unserem Handeln Ziele, die wir erreichen oder verfehlen können, verfolgen, scheint also zu einem gewissen Grad "eingebaut" zu sein.
Dieses "Verstehen" der kleinen Kindern ist nach meiner Ansicht ein unbewusstes, das sicherlich "eingebaut" bzw. angeboren ist. (Leider fällt mir für dieses unbewusste Verstehen kein besserer Ausdruck (Wort) ein.)
Ich hatte unter Verstehen eher etwas gemeint, dass etwas wie eine "gedankliche Reflektion" erfordert, ein inhaltliches Begreifen eines Sachverhalt, also eine bewusste, "intellektuelle" Erfassung des Zusammenhangs, in dem der jeweilige Sachverhalt steht. Insofern meinte ich obiges Ordnen und Prüfen, ob etwas passt und nicht vielleicht einen Widerspruch erzeugt.
Aber ok, "Verstehen" kann man auch in unserer Sprache wohl auch anders verstehen.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Burkart
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So 20. Nov 2022, 22:07

Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 19:56
Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 12:04
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 11:50


Wer in der Schule war, hat verstanden, dass die Sonne nicht aufgeht und es trotzdem jeden Morgen tut.
Ich muss praktisch nichts von Farben verstehen und kann trotzdem sagen, ob ein Auto rot oder grün ist. Ich könnte dagegen auch alles von Farben verstehen und trotzdem nicht sagen, ob das Auto rot oder grün ist.
Hm, und was willst du damit sagen? Dass tiefes Verstehen unabhängig von aktuellen Sinneseindrücken ist?
Wir waren eigentlich bei deiner Frage, wer über richtige und falsche Verwendung entscheidet.
Entscheidet wirklich jemand über richtige oder falsche Verwendung? Ist "richtig" und "falsch" wirlich immer klar? Ich fürchte nicht.
Und hier haben wir lauter richtige Verwendungen von Begriffen, obwohl man einmal alles und einmal nichts über Farben weiß und einmal alles oder auch nichts über die Rotationsbewegung der Erde weiß.

Was das bedeutet, darüber muss ich selbst mal gelegentlich meditieren.
Dann mal gutes Meditieren; wenn du daraus eine Erkenntnis gewinnst, gerne her damit.



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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 22:38

Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:07
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 19:56
Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 12:04

Hm, und was willst du damit sagen? Dass tiefes Verstehen unabhängig von aktuellen Sinneseindrücken ist?
Wir waren eigentlich bei deiner Frage, wer über richtige und falsche Verwendung entscheidet.
Entscheidet wirklich jemand über richtige oder falsche Verwendung? Ist "richtig" und "falsch" wirlich immer klar? Ich fürchte nicht.
Es scheint im Alltag ganz gut zu funktionieren. Wenn meine Frau sagt, ich möge ihr aus dem Keller x mitbringen und ich bringe x und sie bedankt sich, dann muss sie wohl das Wort (x) richtig verwendet haben. Fälle wie den, in denen sie x sagt und ich y bringe und sie sich bedankt, können wir konstruieren, aber das wäre dann sinnlos. Ebenso ein Konstrukt wie das jemand im anderen Forum jetzt gebracht hätte, woher ich denn wüsste, was sie mit Keller meint, oder woher sie wüsste, ob ich das tatsächlich aus dem Keller und nicht woanders her geholt habe.

Wenn es nicht klar ist, kann man herausfinden, warum das der Fall ist. Aber wir gehen im normalen Alltag davon aus, dass uns jemand etwas mitteilen und nicht auf den Arm nehmen möchte.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Burkart hat geschrieben :
Sa 19. Nov 2022, 22:55
Ein Lehrer kann doch nicht in den Kopf eines Kindes schauen und sich eindeutig zu überzeugen, was das Kind wie genau verstanden hat.Wie soll das gehen?
Lewis Carroll, „Alice hinter den Spiegeln“ hat geschrieben : „Da hast du Ruhm!“
„Ich weiß nicht, was du mit ‚Ruhm‘ meinst“, sagte Alice.
Humpty Dumpty lächelte verächtlich. „Natürlich nicht – bis ich es dir sage. Ich meinte: Da hast du ein schönes zwingendes Argument!“
„Aber ‚Ruhm‘ heißt doch nicht ‚schönes zwingendes Argument‘“, entgegnete Alice.
„Wenn ich ein Wort verwende“, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“
Sprachauffassungen, bei denen der Sprecher oder die Sprecherin den Wörtern ihre Bedeutung verleiht, nennt man daher auch Humpty Dumpty Sprachauffassungen. Die Idee, dass man in den Kopf schauen müsste, um herauszufinden, ob jemand einen Begriff richtig verwendet hat, geht meines Erachtens in die nämliche Richtung. Sprache ist nämlich etwas Soziales, etwas Öffentliches, und das ist auch der Ort wo sich die Richtigkeit der Verwendung eines Ausdrucks entscheidet. Niemand, nicht mal Humpty Dumpty entscheidet, ob ein Wort richtig verwendet wurde.
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:38
Fälle wie den, in denen sie x sagt und ich y bringe und sie sich bedankt, können wir konstruieren, aber das wäre dann sinnlos.
Ich denke, solche Fälle sind gar nicht so selten. Mir passiert es mittlerweile leider gelegentlich, dass ich versehentlich das falsche Wort verwende. Dennoch gelingt es meiner Frau regelmäßig aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, was ich sagen wollte. Auch hier entscheidet nicht der Blick in den Kopf, sondern der Zusammenhang macht deutlich, was gemeint war, wenn man so will: das principal of charity im Live Einsatz. Auf die zentrale Bedeutung des Zusammenhangs hast du selbst weiter oben ja auch schon aufmerksam gemacht.

Ein anderer Fall wäre Ironie oder sarkastische Verwendung von Worten. Auch hier kann es sein, dass jemand x sagt und y zu recht verstanden wird. Ähnliches geschieht in der Kunst (und) beim metaphorischen Gebrauch von Begriffen.




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Nov 2022, 07:23

"Der Hörer nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage". (Heinz von Foerster)

Auch wenn mich Förster damit seinerzeit beeindruckt hat, würde ich heute eher fragen, ob das nicht einfach ein umgekehrter Humpty Dumpty ist?




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Lucian Wing
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Mo 21. Nov 2022, 08:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 07:23
"Der Hörer nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage". (Heinz von Foerster)
Da würde ich sofort fragen: Was bedeutet das?
Im Prinzip kann man daran ablesen, dass man hier auch wieder ein auf der Basis von Technik entworfenes menschliches Kommunikationmodell hat (Signal, Sender-Empfänger). Ich glaube aber nicht, dass ein Sprecher lediglich Signale sendet, sondern sich immer schon selbst in einem Netz aus Bedeutungen bewegt.



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Jörn Budesheim
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Mo 21. Nov 2022, 08:41

Lucian Wing hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 08:33
Da würde ich sofort fragen: Was bedeutet das?
Ja, hier schulde ich den Kontext. Aber da muss ich leider passen. Ich hab mir das Zitat mal notiert, weiß aber leider nicht mehr, wo er das geschrieben und wie genau gemeint hat. Konstruktivistische Zusammenhänge sind hier wohl nicht ausgeschlossen.




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Jörn Budesheim
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Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:03
Ich hatte unter Verstehen eher etwas gemeint, dass etwas wie eine "gedankliche Reflektion"
Das heißt, wenn du ein Verkehrsschild siehst und sofort verstehst, dass du halten musst, dann läuft das bei dir nicht unter verstehen?




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Mo 21. Nov 2022, 10:16

Burkart hat geschrieben :
Sa 19. Nov 2022, 12:22
Wenn jemand sagt "Ich habe verstanden", wie klar ist diese Aussage dann? Für ihn wie ggf. auch für andere Personen?

Erstmal zum Verstehen allgemein:
[Abstrakt Mathematisches:]
Kann man z.B. "1+1=2" überhaupt versehen oder lernt man es einfach auswendig? Was kann man daran verstehen? Dass ein und noch ein Objekt minimal mehrere Objekte sind?
Das Beispiel 1 + 1 = 2, kann man sehr wohl verstehen und auch verschieden tief verstehen.
Erste Möglichkeit. Man lernt einfach die Symbole auswendig, also in diesem Fall 5 Symbole. Das macht am wenigsten Sinn.
Was man hier verstanden haben muss, ist, dass die Zahlen immer in der gleichen Reihenfolge aufgesagt werden. 1, 2, 3, 4, ...,10. Und nie etwa 1, 3, 7, 2 oder so.
Das zweite wichtige Element ist, dass man verstanden hat, dass eine Zahl grösser ist als die andere. Also die einfache Gleichung 2 > 1. Oder 3 > 2.
Schließlich, dass die nachfolgende Zahl immer um 1 grösser ist. In Formeln: 1 + 1 = 2, 2 + 1 = 3, also die Einerreihe.

Das sollte ausreichen, dass man von der Frage, wieviel 1 + 1 ist, auf das richtige Resultat, 2 kommt.
Es ist erstaunlich, was es also bedeuten kann, dass man diese einfache Aufgabe auch wirklich verstanden hat. Dafür kann man dann jede Additionsaufgabe lösen, zum Beispiel auch 3 + 2 = 5.

Andere Menschen werden noch andere Ideen haben, wie man 1 + 1 = 2 am besten versteht. Wirklich erstaunlich. Kinder werden oft noch die Finger zur Hilfe nehmen für diese Aufgabe.



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Lucian Wing
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 08:41
Lucian Wing hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 08:33
Da würde ich sofort fragen: Was bedeutet das?
Ja, hier schulde ich den Kontext. Aber da muss ich leider passen. Ich hab mir das Zitat mal notiert, weiß aber leider nicht mehr, wo er das geschrieben und wie genau gemeint hat. Konstruktivistische Zusammenhänge sind hier wohl nicht ausgeschlossen.
Was den Konstruktivismus angeht: Ich habe vorher mal in Glaserfelds "Wege des Wissens" geblättert. Was er über den Spracherwerb von Kindern sagt, muss ich mir noch einmal durchlesen. Meinen Foerster habe ich, glaube ich, nicht mehr.

Aber mir sind noch zwei andere Köpfe eingefallen. Searle sagt, dass wir Sätze überhaupt nur deshalb verstehen, weil sie aus bedeutungsvollen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Und im Lichte von Brandoms schwieriger Theorie könnte man hier einen gemeinsamen Punkt zwischen den beiden, zumindest in komplementärer Form, setzen, dass wir im Grunde auch beim Sprechen immer schon auf eine bestimmte Normativität festgelegt seien. Der Unterschied liegt glaube ich darin, dass sich die bei Searle vom Subjekt her konstituiert, während Brandom das umgekehrt postuliert und den Vorrang des Sozialen proklamiert. Der eine denkt mehr vom Sprecher her, der andere vom Hörer, aber selbst bei letzterem ist die Bedeutung kein Gegenstand des freien Spielens, wonach Foersters Satz klingt.



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Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 08:41

Ja, hier schulde ich den Kontext. Aber da muss ich leider passen. Ich hab mir das Zitat mal notiert, weiß aber leider nicht mehr, wo er das geschrieben und wie genau gemeint hat. Konstruktivistische Zusammenhänge sind hier wohl nicht ausgeschlossen.
"Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt." (Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen; Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker;; S. 100)

"Alles, was gesagt wird, ist durch eine kognitive Maschine hindurchgegangen, die dann mit Geräuschen, die aus dem Mund kommen, oder Kratzspuren, die auf einem Papier stehen, eine Welt generiert. Und diese Welt erzeugt ein anderer, der hört, sieht oder liest, wieder für sich und auf seine Weise. Wer ist im Besitz der Wahrheit?" (a.a.O., S.102).

"Alles ist auf sehr vielfältige Weise verstehbar. Das ist das sogenannte hermeneutische Grundprinzip oder die Hermeneutik des Hörers: Der Hörer und nicht der Sprecher ist es, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt." (a.a.O., S.156).

Dieses Verständnis von Kommunikation findet sich in Form der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen auch in der Systemtheorie Luhmanns. Voraussetzung dafür, daß die Kommunikation anschlußfähig bleibt, ist die Aufrechterhaltung der Einheit dieser drei Selektionen. (Das wiederum kann nur ein soziales System!) Auch bei Luhmann ist es nicht ego, der gleichsam den Akt des Verstehens überwacht und seine Richtigkeit bestätigt, sondern alter ego, der als letzter der drei Selektionen das Verstehen generiert. Er kann dann dieses Verstehen wiederum in eine Mitteilung fassen und den nächsten dreifachen Selektionsprozeß anstoßen; dann ist es an ego, diese Mitteilung zu verstehen. Weder ego noch alter ego können in den Kopf des jeweils anderen hineinschauen. In der Sprache der Systemtheorie: Kommunikation hat keine (wie auch immer geformte) "Offenheit" zur Voraussetzung, sondern die "operationale Geschlossenheit" des Bewußtseins. - Wäre das Bewußtsein für Operationen eines fremden Bewußtseins offen, bräuchte es gar keine Kommunikation, weil dann jedes Bewußtsein jedes andere Bewußtsein durch Invasion auslesen könnte. Würde man auf diese Weise die Gedanken alter egos in ihrer sprachlichen Gestalt vorliegen haben, wäre die anschließende Kommunikation bloß noch eine nachlaufende Dokumentation dessen, was ego eh schon weiß. Der Vorteil: es gäbe nur noch "richtiges" Verstehen. Kommunikation im Sinne der Systemtheorie lebt also geradezu von Mißverständnissen.




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Jörn Budesheim
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Mo 21. Nov 2022, 11:57

Der Slogan von Luhmann dazu ist (sinngemäß/vermutlich fast wörtlich): "Verstehen ist immer Missverstehen - ohne Verstehen des Miss." Mir gefällt aber diese Sentenz von Davidson mittlerweile besser (sinngemäß/vermutlich fast wörtlich): "It is understanding that gives life to meaning, not the other way around." Das müsste man natürlich etwas ausarbeiten :-)




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Lucian Wing
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Mo 21. Nov 2022, 12:02

Für mich sind "die Bedeutung einer Aussage bestimmen" und "Verstehen generieren" einerseits und die Bedeutung eines Wortes zu kennen und es richtig zu verwenden andererseits zwei verschiedene Ebenen.
Wörter richtig zu verwenden, weil man ihre Bedeutung versteht, ist etwas anderes, als die Bedeutung einer Aussage zu bestimmen. Die Seele wiegt mehr als das Herz - das kann man nun in einem poetischen Kontext ausdeuten, und das bleibt dem Hörer/Leser überlassen, ebenso wie sein Verstehen. Aber bei einer solchen Tatsachenbehauptung ist es nicht der Hörer, der die Bedeutung der Aussage bestimmt, weil der Gehalt des Begriffes "Seele" nicht vom Hörer festgelegt wird. Die Prämisse, dass man in den anderen Kopf nicht reinsehen kann, lässt m.E. nicht den Schluss zu, dass deshalb die Bedeutungen einer Aussage aufseiten des Hörers bestimmt werden. Das ignoriert zum Beispiel das Modell geteilter Intentionalität völlig.



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Mo 21. Nov 2022, 12:23

Einer, der das 2005 ausgearbeitet hat, ist Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation. Man muß dabei immer beachten, daß die systemtheoretisch imprägnierte Soziologie und ihre kybernetischen und biologischen Impulsgeber ein Verständnis von Verstehen haben, welches auf das zarte Gemüt des Hermeneutikers wie eine Kältetherapie wirkt:

"Geräusche, die aus dem Mund kommen ... Kratzspuren auf Papier ..." Man denkt an Lebendig begraben von Edgar Allan Poe und den Scheintod der Hermeneutik, doch finden sich überraschende Einsichten in dieser Theorie der Kommunikation als einer stillen Post, deren Empfänger die Hoheitsrechte über das Verstehen hat.
Zuletzt geändert von Nauplios am Mo 21. Nov 2022, 13:09, insgesamt 1-mal geändert.




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Lucian Wing
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Mo 21. Nov 2022, 12:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 11:57
Der Slogan von Luhmann dazu ist (sinngemäß/vermutlich fast wörtlich): "Verstehen ist immer Missverstehen - ohne Verstehen des Miss."
Man müsste Luhmann, so er noch lebte, mal fragen, wie oft er in einem Restaurant ein Glas Wein oder Bier oder ein Wasser bestellt hat, und wie häufig es vorgekommen ist, dass der Ober das Gewünschte brachte und ihm über den Kopf geschüttet hat.

Oder welcher Fehler soll denn unverstanden bleiben, wenn er sagt: Bringen Sie mir ein Glas Wein und der Ober kommt und stellt es vor ihn hin?



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Mo 21. Nov 2022, 20:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 10:07
Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:03
Ich hatte unter Verstehen eher etwas gemeint, dass etwas wie eine "gedankliche Reflektion"
Das heißt, wenn du ein Verkehrsschild siehst und sofort verstehst, dass du halten musst, dann läuft das bei dir nicht unter verstehen?
Na ja, das Verstehen eines Verkehrsschildes erfordert schon das Wissen, was es bedeutet (man versteht also seine Bedeutung), man reflektiert immerhin mit seinem Gelernten. Das ist bei Angeborenem anders.
Natürlich kann Verstehen bzw. Refektieren erheblich tiefergehend sein.



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Mo 21. Nov 2022, 20:10

Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:38
Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:07
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 19:56

Wir waren eigentlich bei deiner Frage, wer über richtige und falsche Verwendung entscheidet.
Entscheidet wirklich jemand über richtige oder falsche Verwendung? Ist "richtig" und "falsch" wirlich immer klar? Ich fürchte nicht.
Es scheint im Alltag ganz gut zu funktionieren. Wenn meine Frau sagt, ich möge ihr aus dem Keller x mitbringen und ich bringe x und sie bedankt sich, dann muss sie wohl das Wort (x) richtig verwendet haben. Fälle wie den, in denen sie x sagt und ich y bringe und sie sich bedankt, können wir konstruieren, aber das wäre dann sinnlos. Ebenso ein Konstrukt wie das jemand im anderen Forum jetzt gebracht hätte, woher ich denn wüsste, was sie mit Keller meint, oder woher sie wüsste, ob ich das tatsächlich aus dem Keller und nicht woanders her geholt habe.

Wenn es nicht klar ist, kann man herausfinden, warum das der Fall ist. Aber wir gehen im normalen Alltag davon aus, dass uns jemand etwas mitteilen und nicht auf den Arm nehmen möchte.
Klar, im Alltag klappt es oft. Ich sehe nur nicht, dass hier jemand über eine Verwendung entscheiden musste; ihr ward euch ja einfach einig über den Gebrauch, hattet also ein gemeinsames Verständnis.



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Mo 21. Nov 2022, 20:39

Burkart hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 20:03
man reflektiert immerhin mit seinem Gelernten
Was soll das heißen?




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Lucian Wing
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Mo 21. Nov 2022, 20:54

Burkart hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 20:10
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:38
Burkart hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 22:07

Entscheidet wirklich jemand über richtige oder falsche Verwendung? Ist "richtig" und "falsch" wirlich immer klar? Ich fürchte nicht.
Es scheint im Alltag ganz gut zu funktionieren. Wenn meine Frau sagt, ich möge ihr aus dem Keller x mitbringen und ich bringe x und sie bedankt sich, dann muss sie wohl das Wort (x) richtig verwendet haben. Fälle wie den, in denen sie x sagt und ich y bringe und sie sich bedankt, können wir konstruieren, aber das wäre dann sinnlos. Ebenso ein Konstrukt wie das jemand im anderen Forum jetzt gebracht hätte, woher ich denn wüsste, was sie mit Keller meint, oder woher sie wüsste, ob ich das tatsächlich aus dem Keller und nicht woanders her geholt habe.

Wenn es nicht klar ist, kann man herausfinden, warum das der Fall ist. Aber wir gehen im normalen Alltag davon aus, dass uns jemand etwas mitteilen und nicht auf den Arm nehmen möchte.
Klar, im Alltag klappt es oft. Ich sehe nur nicht, dass hier jemand über eine Verwendung entscheiden musste; ihr ward euch ja einfach einig über den Gebrauch, hattet also ein gemeinsames Verständnis.
Ich habe das, worauf ich geantwortet habe, noch einmal fett hervorgehoben. Irgendwie ist das manchmal wie Sumo-Ringen, wo man zugreift und immer abrutscht. Werde doch mal irgendwie mal konkret.



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Mo 21. Nov 2022, 21:01

Lucian Wing hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 20:54
Werde doch mal irgendwie mal konkret.
!




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