Haben wir einen Sinn für den Sinn?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 18:36
Gabriel widerspricht hier
Dazu müsste man sich die entsprechenden Passagen in den beiden Videos noch einmal genau anschauen. Die Frage ist, was Ariadne von Schirach mit der Formulierung "alles hängt mit allem zusammen" überhaupt meint. Soweit ich es verstanden habe, bzw, soweit ich mich richtig entsinne, meint sie damit, dass auf dem lebendigen Planeten Erde als einem vernetzten Ökosystem "alles mit allem zusammenhängt". Das Leben auf diesem Planeten ist so gesehen ein lebendiger Zusammenhang vieler verschiedener, vernetzter, zusammenhängender Akteure.

Natürlich hängt bei Markus Gabriel in einem strengen Sinn nicht alles mit allem zusammen, mit anderen Worten: die Welt gibt es nicht. Aber mit Blick auf das Leben schreibt er: "Die Wirklichkeit des Lebens besteht darin, dass es vor Leben nur so wimmelt, was den Philosophen Gilles Deleuze und den Psychoanalytiker Félix Guattari schon in den 1970er-Jahren dazu bewegt hat, von Rhizomen, also von unterirdischen Geflechten, anstatt von Stammbäumen auszugehen, um die Entwicklungen des Lebendigen zu bescbeschreibe. Das Leben wuchert und produziert dabei Verflechtungen, die so komplex sein können wie das menschliche Nervensystem, das immer komplexer erscheint, je genauer die Neurowissenschaften es unter die Lupe nehmen....". Und dieses Wuchern, dieses Geflecht ist wohl gar nicht so weit von dem entfernt, was Ariadne von Schirach meinte.




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Jörn Budesheim
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Markus Gabriel hat geschrieben : Deswegen schlägt Susan Wolf eine konkrete Konzeption der Bedeutsamkeit (meaningfulness) vor, die einen Grundzug des Sinns im Leben identifiziert, mit dem sich alle Menschen anfreunden können. Nennen wir diesen Vorschlag Wolfs Liebesthese:
  • Der Konzeption der Bedeutsamkeit zufolge, die ich vorschlagen möchte, rührt Sinn daher, dass man etwas liebt, was unsere Liebe verdient und womit man in einer positiven Weise umgeht. […] »Liebe« ist zumindest teilweise subjektiv, weil sie Einstellungen und Gefühle involviert. Darauf bestehend, dass der erforderliche Gegenstand der Liebe »unsere Liebe verdient«, beruft sich diese Konzeption des Sinns auf einen objektiven Standard. […] Meiner Konzeption zufolge rührt Sinn daher, dass subjektive Attraktion auf objektive Attraktivität trifft. Im Wesentlichen lautet die Idee, dass das Leben einer Person nur sinnvoll sein kann, wenn diese von einer Sache gepackt, erregt, interessiert und engagiert ist oder, wie ich es vorher ausgedrückt habe, wenn sie etwas liebt – was demjenigen entgegensetzt ist, sich bei allem oder dem meisten, was sie tut, zu langweilen oder davon entfremdet zu sein ...
Langer Rede kurzer Sinn, Wolf vertritt die These, der Sinn, den wir im Leben finden, bestehe darin, dass wir etwas oder jemanden lieben können. Man kann seinen Beruf und seine Kinder, seine Heimatstadt und Beethovens neunte Symphonie lieben, ebenso wie man das Klavierspielen oder das Joggen lieben kann. Allerdings, so Wolf, kann man im Lieben Fehler begehen, weil man etwas oder jemanden liebt, das, die oder der objektiv nicht liebenswürdig ist.​
Damit könnten wir eine gewisse Überschneidung mit den Vorstellungen von Ariadne von Schirach haben.




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AufDerSonne
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Mo 27. Feb 2023, 19:27

Ok, wenn man das Ökosystem Erde betrachtet, dann gut. Hier auf unserem Planeten hängt schon alles mit allem zusammen.

Aber wenn man sagt, dass das Leben wuchert, was ich auch glaube, also unheimlich vielfältig sich entfaltet, dann wird es ja um so schwieriger das Ganze zu überblicken.
Das widerspricht sich ja irgendwie. Je mehr das Leben wuchert, desto weniger bringt es etwas, dass alles mit allem zusammenhängt. Denn die Zusammenhänge werden immer komplexer.



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Jörn Budesheim
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Mo 27. Feb 2023, 19:30

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:27
Das widerspricht sich ja irgendwie.
Was widerspricht sich?




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AufDerSonne
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Mo 27. Feb 2023, 19:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:30
AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:27
Das widerspricht sich ja irgendwie.
Was widerspricht sich?
Wenn man sagt, dass alles mit allem zusammenhängt, dann will man gerne ein Gefühl für den Überblick haben. "Alles hängt mit allem zusammen!" Ah gut, dann ist es ja kein Problem das Ganze zu sehen!
Wenn das Leben wuchert, immer wie komplexer wird, dann bringt es nicht viel, wenn man weiss, dass alles mit allem zusammenhängt. Denn man kann nicht alles berücksichtigen.



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Jörn Budesheim
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Ich glaube nicht, dass die Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt, bedeutet, dass man das Ganze überblicken kann. Ariadne von Schirach stellt uns selbst im Übrigen mitten in den Zusammenhang, so wie ich sie verstehe, und keineswegs an einen Punkt außerhalb des Lebens, von dem aus man es überblicken könnte.




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AufDerSonne
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Mo 27. Feb 2023, 19:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:26
Damit könnten wir eine gewisse Überschneidung mit den Vorstellungen von Ariadne von Schirach haben.
Liebe ist ein so schwierig zu definierender Begriff.
Und dann gibt es Sachen, die sich leichter lieben lassen als andere. Viele Menschen können mit Schach oder Mathematik überhaupt nichts anfangen. Und ich finde das legitim.

Die Überschneidung mit Ariadne von Schirachs Vorstellungen kann ich nicht beurteilen.
Denn was sie insgesamt sagen will, ist mir nicht ganz klar. Also was sie sich eigentlich vorstellt.

Und Liebe ist nicht das einzige verbindende Gefühl zu einer Sache. Neugierde oder ein Verstehen-Wollen usw. kann auch eine treibende Kraft sein.
Aber ich muss zugeben, ich habe ein wenig den Überblick verloren.
Ich denke, wir haben einen Sinn für den Sinn. Wir können erahnen, was sinnvoll ist und was nicht oder mehr oder weniger Sinn macht.



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Jörn Budesheim
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Mo 27. Feb 2023, 20:10

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:52
Liebe ist ein so schwierig zu definierender Begriff.
Und?
AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:52
Und dann gibt es Sachen, die sich leichter lieben lassen als andere. Viele Menschen können mit Schach oder Mathematik überhaupt nichts anfangen. Und ich finde das legitim.
Und?




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Jörn Budesheim
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Di 28. Feb 2023, 11:49

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:52
Und dann gibt es Sachen, die sich leichter lieben lassen als andere. Viele Menschen können mit Schach oder Mathematik überhaupt nichts anfangen. Und ich finde das legitim.
Warum erwähnst du das? Wofür oder wogegen soll das sprechen?




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AufDerSonne
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Di 28. Feb 2023, 17:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Feb 2023, 11:49
AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 19:52
Und dann gibt es Sachen, die sich leichter lieben lassen als andere. Viele Menschen können mit Schach oder Mathematik überhaupt nichts anfangen. Und ich finde das legitim.
Warum erwähnst du das? Wofür oder wogegen soll das sprechen?
Eben, ich habe den Faden verloren.

Grundsätzlich ist mir das Wort Liebe unangenehm. Um was ging es? Ob alles mit allem verbunden sei oder nicht?
Und du meinst jetzt, die Liebe könne eine Verbindung zu den Dingen herstellen?



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Timberlake
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Fr 3. Mär 2023, 03:00

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 27. Feb 2023, 18:36

Ich habe jetzt noch den Vortrag von Frau von Schirach gehört.
Sie bringt sehr interessante Gedanken, dünkt mich. Macht sie aber oft gleich wieder zunichte.
Nur liegt das mitunter nicht in der Natur der Sache ..

Beispiel



Ab der Stelle 8:18 min heißt es dazu .. ich zitiere ..
  • "Denn im Gegensatz zu den bestimmten Tieren, die eine vorgegebene Umgebung hinein geboren sind , .. sind wir unbestimmte Tiere , die sich ihre Lebensumstände immer wieder neu schaffen und schaffen müssen. Wir müssen uns selbst auf dieser Erde beheimaten . Doch obwohl wir sehr großen Einfluss auf dieses Leben nehmen können , sind wir zugleich nicht wirklich frei. Einerseits ist immer schon etwas da .. eine bestimmte Epoche , eine bestimmte Kultur , in eine bestimmte Familie hineingeboren . Andererseits steht uns Menschen nicht nur vieles entgegen , sondern uns bleibt auch vieles unverfügbar ..
    Diese paradoxe Situation beschreibt existenzialistische Philosoph Martin Heidegger .. als „geworfener Entwurf“ . Geworfenheit umfasst die Momente unserer Unfreiheit und der Gedanke des Entwurfs illustriert die gleichzeitige Offenheit der Zukunft und dadurch auch unsere Verantwortung für sie."

Wird nicht der Gedanke , dass wir etwas "Entwerfen" (Heidegger) können , durch den Gedanken der „Geworfenheit“ wieder zunichte gemacht? Beispielsweise "einerseits" das Geworfensein in eine bestimmte Epoche , eine bestimmte Kultur und in eine bestimmte Familie.
Was uns "andererseits" , bezüglich der „Geworfenheit“ , an vielem entgegen steht oder auch an Vielem unverfügbar ist , dafür hat Frau von Schirach leider keine Beispiele genannt.

Übrigens beides , also zum Einem die Geworfenheit , für das man .. weil vorgegeben .. keine Verantwortung trägt und zum Anderen das Entwerfen , für das man ... weil offen für die Zukunft .. Verantwortung tragen könnte ( Konjunktiv ... Stichwort : vieles entgegen stehen / vieles unverfügbar bleiben) , haben seiner Zeit die Ärzte sehr schön auf den Punkt gebracht ...





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AndreaH
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Mo 6. Mär 2023, 23:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Feb 2023, 21:46


Ich bin erst bei 13:31 Minuten, aber der Vortrag fängt so gut an, dass ich spontan beschlossen habe, ihn sofort zu posten, egal wie er weitergeht. Ich meine, ich habe den Namen der Philosophin schon mal gehört, aber noch nie etwas von ihr gelesen. Aber ihre Vortragsweise ist außergewöhnlich, finde ich! Auf jeden Fall sehens- und hörenswert.
Ich fand den Vortrag auch sehr gut!




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AndreaH
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Mo 6. Mär 2023, 23:51

Timberlake hat geschrieben :
Fr 3. Mär 2023, 03:00

Diese paradoxe Situation beschreibt existenzialistische Philosoph Martin Heidegger .. als „geworfener Entwurf“ . Geworfenheit umfasst die Momente unserer Unfreiheit und der Gedanke des Entwurfs illustriert die gleichzeitige Offenheit der Zukunft und dadurch auch unsere Verantwortung für sie."


Wird nicht der Gedanke , dass wir etwas "Entwerfen" (Heidegger) können , durch den Gedanken der „Geworfenheit“ wieder zunichte gemacht? Beispielsweise "einerseits" das Geworfensein in eine bestimmte Epoche , eine bestimmte Kultur und in eine bestimmte Familie.
Was uns "andererseits" , bezüglich der „Geworfenheit“ , an vielem entgegen steht oder auch an Vielem unverfügbar ist , dafür hat Frau von Schirach leider keine Beispiele genannt.



Ich finde die Gedanken mit der Geworfenheit und des Entwerfens sehr spannend.
Ich würde es nicht so sehen, dass die "Geworfenheit" das "Entwerfen" zunichte macht.
Vielmehr entsteht doch das neu Entwerfen aus der Geworfenheit.
Es beeinflusst klar das Entwerfen, dies ist mit Sicherheit so. Jedoch das es völlig zunichte macht würde ich nicht so sehen.

Ich hätte als Beispiel die Übung zur Atmung in dem Vortrag interpretiert.




Timberlake
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Di 7. Mär 2023, 01:03

AndreaH hat geschrieben :
Mo 6. Mär 2023, 23:51
Timberlake hat geschrieben :
Fr 3. Mär 2023, 03:00

Diese paradoxe Situation beschreibt existenzialistische Philosoph Martin Heidegger .. als „geworfener Entwurf“ . Geworfenheit umfasst die Momente unserer Unfreiheit und der Gedanke des Entwurfs illustriert die gleichzeitige Offenheit der Zukunft und dadurch auch unsere Verantwortung für sie."


Wird nicht der Gedanke , dass wir etwas "Entwerfen" (Heidegger) können , durch den Gedanken der „Geworfenheit“ wieder zunichte gemacht? Beispielsweise "einerseits" das Geworfensein in eine bestimmte Epoche , eine bestimmte Kultur und in eine bestimmte Familie.
Was uns "andererseits" , bezüglich der „Geworfenheit“ , an vielem entgegen steht oder auch an Vielem unverfügbar ist , dafür hat Frau von Schirach leider keine Beispiele genannt.
Ich finde die Gedanken mit der Geworfenheit und des Entwerfens sehr spannend.
Ich würde es nicht so sehen, dass die "Geworfenheit" das "Entwerfen" zunichte macht.
.. richtig .. schließlich gibt es da noch .. "das Werden "(Hegel) ...




Nauplios
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Di 7. Mär 2023, 01:50

AndreaH hat geschrieben :
Mo 6. Mär 2023, 23:29

Ich fand den Vortrag auch sehr gut!
In der vergangenen Woche konnte ich der Versuchung noch widerstehen, den Vortrag von Ariadne von Schirach zu kommentieren. Aber Dein Lob, Andrea, läßt mich dieser Versuchung jetzt nachgeben. ;)

Selten drang unter der Flagge der Philosophie ein Boot in seichtere Gewässer als diese Jolle der Ariadne von Schirach. Das ist Schiffbruch im Feuchtgebiet zwischen sprachlichen Nebelschwaden und pathos-besoffener Selbstdarstellung. Das ist kein philosophischer Vortrag, sondern bestenfalls eine Parodie darauf.

Es spricht nichts dagegen, wenn ein Mensch atmet. Macht man daraus ein Mit-Mach-Event, verkommt es zu einer aufdringlich plumpen Gebärde. Respiratorische Faxenmacherei. Atemtherapie als alternativ-medizinischer Ansatz mag die Lungenfunktion stärken und eine sinnvolle Unterstützung bei der Behandlung von Asthma und COPD sein. Doch ist ein philosophischer Vortrag keine Therapiesitzung.

Ariadne von Schirach inszeniert sich ihrem Publikum gegenüber als Visionärin, Priesterin und Heilerin. Duktus und Gestus erinnern an bußfertige Televangelisten in US-amerikanischen Gottesdienstübertragungen, die vor laufender Kamera ihr mea culpa präsentieren - kapriziös im Inhalt, prätentiös im Ausdruck. Der erhobene Zeigefinger ist hier nicht nur Metapher, sondern Symbol für Belehrungen aller Art. Petitessen, Platitüden, Pathos.

Die ZEIT hat all das anlässlich der Besprechung von Du sollst nicht funktionieren so resümiert: "Ariadne von Schirach ist betrunken. Sie ist betrunken von ihrer eigenen Sprache."
(Meckerbürgers alte Leier)

Welch' eine Wohltat ist da der Vortrag von Markus Gabriel! ;)




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 01:50
Selten drang unter der Flagge der Philosophie ein Boot in seichtere Gewässer als diese Jolle der Ariadne von Schirach.
Du bist ja richtig böse :-) Ich kann verstehen, dass man sowas nicht mag, insbesondere wenn's ums Mitmachen geht oder Mit-Mach-Events.
Ariadne von Schirach (sinngemäß) hat geschrieben : Jetzt möchte ich Sie bitten, mit mir zu atmen, einfach fünfmal durch die Nase einatmen und durch den Mund ausatmen. [1,2,3,4,5] Haben Sie geatmet? Und die interessante Frage ist, wer hat vorher geatmet? Also jetzt haben sie geatmet und vorher wurden Sie geatmet.
Ich selbst fand das jedoch eine schöne Stelle, weil sie einem bewusst gemacht hat, dass man sich viele Dinge, die einem ansonsten einfach passieren, bewusst machen kann. Man kann innehalten und sich fragen, ob das, was einem "passiert", wirklich so sein muss. Der Mensch ist, wie sie mit Nietzsche sagt, das unbestimmte Tier, das sich und seine Rolle hier auf Erden immer wieder neu definieren muss. Und das fand ich mit dieser kleinen Übung anschaulich demonstriert.

Unter dem Video wird sie so vorgestellt: Ariadne von Schirach, Schriftstellerin, die Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Universitäten und Hochschulen lehrt. "Chinesisches Denken" mag zwar eine seltsame Formulierung sein, aber auch das kann diese kurze Performance in ein entsprechendes Licht rücken.
Nauplios hat geschrieben :
So 5. Mär 2023, 19:59
Ich hatte vor einiger Zeit spaßeshalber die Einrichtung einer Abteilung für Philosophie angeregt, angesichts einer allgemeinen Verzückung durch Künstliche Intelligenz, Chatprogramme, Mathematik, Gehirnaktivitäten und andere Körperteile
Ich denke, die Frage nach dem Sinn und unseren Sinnen für den Sinn könnte bei der Einrichtung einer philosophischen Abteilung durchaus berücksichtigt werden ;-)




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AndreaH
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Di 7. Mär 2023, 23:41

Nauplios hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 01:50

Selten drang unter der Flagge der Philosophie ein Boot in seichtere Gewässer als diese Jolle der Ariadne von Schirach. Das ist Schiffbruch im Feuchtgebiet zwischen sprachlichen Nebelschwaden und pathos-besoffener Selbstdarstellung. Das ist kein philosophischer Vortrag, sondern bestenfalls eine Parodie darauf.

Es spricht nichts dagegen, wenn ein Mensch atmet. Macht man daraus ein Mit-Mach-Event, verkommt es zu einer aufdringlich plumpen Gebärde. Respiratorische Faxenmacherei. Atemtherapie als alternativ-medizinischer Ansatz mag die Lungenfunktion stärken und eine sinnvolle Unterstützung bei der Behandlung von Asthma und COPD sein. Doch ist ein philosophischer Vortrag keine Therapiesitzung.

Ariadne von Schirach inszeniert sich ihrem Publikum gegenüber als Visionärin, Priesterin und Heilerin. Duktus und Gestus erinnern an bußfertige Televangelisten in US-amerikanischen Gottesdienstübertragungen, die vor laufender Kamera ihr mea culpa präsentieren - kapriziös im Inhalt, prätentiös im Ausdruck. Der erhobene Zeigefinger ist hier nicht nur Metapher, sondern Symbol für Belehrungen aller Art. Petitessen, Platitüden, Pathos.

Die ZEIT hat all das anlässlich der Besprechung von Du sollst nicht funktionieren so resümiert: "Ariadne von Schirach ist betrunken. Sie ist betrunken von ihrer eigenen Sprache."
(Meckerbürgers alte Leier)
:lol: also, ich muss zugeben, hätte Frau von Schirach über einen Kartoffelschäler geredet, dann wäre es möglicherweise passiert, dass ich diesen gekauft hätte. ;)

Aber so extrem wie du diesen Vortrag empfindest, dies kann ich nun auch nicht nachvollziehen. ;)
Ich fand es waren interessante Impulse dabei.
Das mit der Atmung fand ich deshalb spannend, da es den Fokus auf "das Geworfene" und auf "das Entwerfen" praktisch darlegt.




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Fr 10. Mär 2023, 01:50

AndreaH hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 23:41

Das mit der Atmung fand ich deshalb spannend, da es den Fokus auf "das Geworfene" und auf "das Entwerfen" praktisch darlegt.
Dazu nur mal zur Erinnerung , was Ariadne von Schirach (sinngemäß) zur Atmung gesagt hat ..
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 08:35

Ariadne von Schirach (sinngemäß) hat geschrieben : Jetzt möchte ich Sie bitten, mit mir zu atmen, einfach fünfmal durch die Nase einatmen und durch den Mund ausatmen. [1,2,3,4,5] Haben Sie geatmet? Und die interessante Frage ist, wer hat vorher geatmet? Also jetzt haben sie geatmet und vorher wurden Sie geatmet.
Bemerkenswert fand ich den Unterschied , zwischen dem unbewussten "geatmet werden" und dem bewussten "fünfmaligen Ein- und Ausatmen" .
Timberlake hat geschrieben :
Fr 3. Mär 2023, 03:00
..


Ab der Stelle 8:18 min heißt es dazu .. ich zitiere ..
  • "Denn im Gegensatz zu den bestimmten Tieren, die eine vorgegebene Umgebung hinein geboren sind , .. sind wir unbestimmte Tiere , die sich ihre Lebensumstände immer wieder neu schaffen und schaffen müssen. Wir müssen uns selbst auf dieser Erde beheimaten . Doch obwohl wir sehr großen Einfluss auf dieses Leben nehmen können , sind wir zugleich nicht wirklich frei. Einerseits ist immer schon etwas da .. eine bestimmte Epoche , eine bestimmte Kultur , in eine bestimmte Familie hineingeboren . Andererseits steht uns Menschen nicht nur vieles entgegen , sondern uns bleibt auch vieles unverfügbar ..
    Diese paradoxe Situation beschreibt existenzialistische Philosoph Martin Heidegger .. als „geworfener Entwurf“ . Geworfenheit umfasst die Momente unserer Unfreiheit und der Gedanke des Entwurfs illustriert die gleichzeitige Offenheit der Zukunft und dadurch auch unsere Verantwortung für sie."
Angewendet auf den „geworfenen Entwurf (Heidegger)“ hieße das , dass das unbewusste "geatmet werden" .. als Geworfenheit! .. die Momente unserer Unfreiheit umfasst und das bewusste "fünfmalige Ein- und Ausatmen" die Freiheit , die Atmut unabhängig von diesen Momenten , zu .. "entwerfen"
Wenn hier die Frage gestellt wird : Haben wir einen Sinn für den Sinn? so behaupte ich einmal , dass erst mit dem bewussten "fünfmaligen ein- und ausatmen" wir einen Sinn für den Sinn der Atmung haben. Wenn wir hingegen gemäß dem Wortlaut von Ariadne von Schirach "geatmet werden" fehlt dieser Sinn. Warum sollte man sich unter diesen Umständen um die Atmung , im wahrsten "Sinne" des Wortes, auch einen Kopf machen und weil wir uns , um sehr vieles "Geworfensein" keinen Kopf machen , so fehlt uns gleichermaßen der Sinn für den Sinn von dem , was mit uns , von daher, also den "Momenten unserer Unfreiheit( Schirach )" , unbewusst gemacht wird.

Im Vergleich zu Markus Gabriel, welch eine Wohltat ist doch dagegen der Vortrag von Ariadne von Schirach. ;)




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Fr 10. Mär 2023, 14:13

Also wer ist jetzt besser. Von Schirach oder Gabriel? Ich bin verwirrt.

Die Geworfenheit des Lebens. Nun ja. Das tönt für mich ein bisschen flach.
Natürlich wird man in gewisse Umstände hineingeboren, aber man hat während dem Erwachsenwerden genug Zeit, daran etwas zu ändern.
Ausserdem sind die äusseren Umstände nicht so wichtig, wie das innere Streben, die Arbeit, die man täglich macht.

Und vor allem stört uns die gegebene Unfreiheit nicht. Wichtig ist, was man frei entscheiden kann, wo man frei ist. So ein erster Schritt zur Freiheit ist oft, dass man beginnt das zu denken, was man denken will und nicht das, was die anderen gerne hätten, das man denkt.



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Fr 10. Mär 2023, 14:37

AndreaH hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 23:41

Aber so extrem wie du diesen Vortrag empfindest, dies kann ich nun auch nicht nachvollziehen. ;)
Ich fand es waren interessante Impulse dabei.
Andrea, bevor es mißverstanden wird: Meine Kritik betrifft den Vortrag von Ariadne von Schirach - Inhalt und Form. Sie richtet sich nicht dagegen, diesem Vortrag "interessante Impulse" abgewinnen zu können. Du bewertest diesen Vortrag anders als ich; das ändert jedoch nichts an unserer freundschaftlichen Verbundenheit. Ich bin auch nicht "böse", ich klinge "böse". ;)

Ich hab' das Thema hier nicht weiter aufgegriffen, weil es mich wohl nur zu weiteren Bosheiten ermuntert hätte; die Zurückhaltung hat also nichts mit Dir zu tun. -




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