Der Rechtsbegriff "Menschenwürde": Eine Kritik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Do 26. Okt 2017, 09:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 26. Okt 2017, 07:53
Der Begriff "Eigenschaft" ist also vom obersten philosophischen Gerichtshof keineswegs auf physische Eigenschaften limitiert worden und meint nicht ganz im allgemeinen oder grundsätzlich so etwas wie Gewicht, Größe und Haarfarbe. Und wenn ich mich nicht täusche, dann hat Stefanie (unter anderem mit Berufung auf Levinas) Eigenschaften dieser Art bereits ausgeschlossen und dem schließe ich mich an.

Es ist nicht besonders fruchtbar, dem philophischen Opponenten dauerhaft eine andere Ansicht zuzuschreiben, als dieser wirklich vertritt. Und Argumente gegen erfundene Ansichten sind nicht gerade hilfreich.
Mir wird immer rätselhafter, was Du beanspruchst, "direkt sehen" zu können, wenn Du ins Gesicht... Pardon! ins "Antlitz" eines Menschen schaust. Vermutlich hast Du neben Deinen beiden Augen im Kopf noch ein spezielles geistiges Auge für die geistigen Dinge mit geistigen Eigenschaften... Da kann unsereiner natürlich nicht mithalten. ;)




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Do 26. Okt 2017, 10:19

Lassen wir doch Kant selbst die "Eigenschaft" der Würde erläutern:
Würde
Das sittliche Handeln erfolgt "aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt". Im "Reich der Zwecke" (s. d.) "hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde". Was "die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde", GMS 2. Abs. (III 60 f.). Moralität ist die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein. "Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat." Treue, Wohlwollen aus Grundsätzen haben einen inneren Wert. Dieser "besteht nicht in Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d. i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte". Eine solche Denkungsart hat Würde, die sie über allen Preis unendlich erhebt, ibid. (III 61). Die Gesetzgebung, die allen Wert bestimmt, muß ebendarum eine Würde, d. h. "unbedingten, unvergleichbaren Wert" haben. Autonomie (s. d.) ist also "der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur", ibid. (III 62 ff.). Bloß "die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur", ohne irgendeinen zu erreichenden Zweck, also die "Achtung für eine bloße Idee" dient zur sittlichen Vorschrift, ibid. (III 65 f.). Diejenige Person, die alle ihre Pflichten erfüllt, hat "eine gewisse Erhabenheit und Würde", sofern sie selbst gesetzgebend ist. Die Würde der Menschheit besteht eben in der "Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein", ibid. (III 66 f.). "Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)", MST § 38 (III 321). Es ist auch bei der Erziehung zu betonen, "daß der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt, und seine Pflicht ist es, diese Würde der Menschheit in seiner eigenen Person nicht zu verleugnen". Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner Person bewahre. "Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleicht", Üb. Pädagogik (VIII 240 f.). Vgl. Menschheit, Persönlichkeit, Achtung, Heiligkeit, Pflicht, Wert.
(Quelle, Eislers Kant-Lexikon; meine Unterstreichungen)




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Jörn Budesheim
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Do 26. Okt 2017, 10:57

Wer der Ansicht ist, man könne Geistiges ganz im Allgemeinen nicht wahrnehmen, hat meines Erachtens sowohl vom Geistigen als auch vom Wahrnehmen ein seltsames Bild. Im Umgang mit anderen sehen wir unentwegt Geistiges, das kann man nur schwer leugnen. Und die phänomenologischen Untersuchungen von Levinas und anderen sind meines Erachtens für jeden nachvollziehbar.




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Do 26. Okt 2017, 11:48

Das Thema "Geist" ist ein weites (Schlacht-) Feld mit vielen Stolpersteinen. Bei diesem Thema versteht sich nichts von selbst. Nichts ist in der Philosophie so umstritten wie der Geist. Daher lässt sich z.B. die These, wir könnten Geistiges sinnlich wahrnehmen, nicht mal eben im Vorübergehen behaupten wie eine Selbstverständlichkeit. Wer diese These aufstellt, sollte daher auch bereit sein, auf kritische Nachfragen und Einwände geduldig einzugehen und genauer zu erläutern, wie er es meint und welche Prämissen seiner These vorangehen. Denn die Begründungspflicht liegt zunächst einmal bei ihm.




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Jörn Budesheim
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Do 26. Okt 2017, 12:04

Aber eine Pflicht zu versuchen, was andere in einer philosophischen Diskussion vorschlagen, nachzuvollziehen, besteht vermutlich nicht, schätze ich. Dann kann es aber auch mit dem Begründen nichts werden, weil dieses in diesem Fall darauf basiert, dass der andere auch mitmacht. Wer so tut, als wüsste er nicht, wovon die Rede sein könnte, wenn von dem Blick ins Antlitz die Rede ist und sich statt dessen darüber sogar mokiert, dem kann man die gewünschte Begründung anders nicht andemonstrieren. Manches zeigt sich eben erst im Nachvollzug und nicht bloß auf dem Papier.




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Tarvoc
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Fr 27. Okt 2017, 07:49

Constantin hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 22:04
Das spricht für Stefanies Auffassung, wonach Zuschreibung von Menschenwürde, ob explizit oder implizit, nicht genügt, weil es sein kann, dass sie schlicht unterbleibt.
Das selbe Problem hat man doch ganz genauso, wenn man Menschenwürde als faktisch gegebenenen Gegenstand sinnlicher Erfahrung auffasst. Dass diese Erfahrung eben anscheinend auch ausbleiben kann, sieht man ja schon daran, dass die Menschenwürde immer wieder verletzt wird. Nur kommt man dann sogar mitunter dazu, Leute, die die Menschenwürde verletzen, gleich ganz zu stumpfsinnigen Bestien zu erklären, denen ein Wesensmerkmal menschlichen Erkennens abgeht - wie es hier im Thread jetzt schon einige Male zumindest anklang.



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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2017, 08:05

Aber daraus, dass eine Erfahrung ausbleibt, folgt nicht, dass der Gegenstand der Erfahrung nicht faktisch gegeben ist und die Erfahrung nicht gemacht werden kann. Und dass ein Gebot seine Befolgung nicht erzwingt, heißt nicht, dass das Gebot nicht befolgt werden sollte.




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Fr 27. Okt 2017, 12:39

Nur ist eben das "Faktum" der Menschenwürde eines, das jedem menschlichen Individuum, das es gibt, gegeben hat und geben wird, in gleichem Maße zukommen soll. Auch den Menschen, die noch gar nicht existieren, also faktisch nicht vorhanden sind, kommt sie bereits zu; dieser Anspruch ist mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden. Wenn also die Menschenwürde ein Faktum ist, dann ist sie eins, das Nicht-Faktisches mit einbegreift. Ein Faktum ohne zeitliche und räumliche Bestimmtheit, also ein "ewiges".

Nun gibt es aber die Menschen immer nur als endliche Individuen, die sich jederzeit an einer bestimmten Stelle in Raum und Zeit befinden, sich in ihrer Beschaffenheit alle von einander unterscheiden und sich dauernd verändern. Dies Ensemble von Bestimmungen ist auch eigentlich das, was wir mit "Faktizität" gewöhnlich meinen. Aber genau davon gilt es abzusehen, zu abstrahieren, wenn wir sagen: "Jedem menschlichen Individuum kommt die gleiche Würde zu." Die Menschenwürde kommt eben jedem Menschen ungeachtet seiner faktischen individuellen, räumlich-zeitlichen Qualitäten, durch die er sich von allen anderen Menschen unterscheidet, zu. - Das vermeintliche Faktum der Menschenwürde wäre somit ein Faktum, das im Widerstreit mit der Faktizität der konkreten, menschlichen Individuen liegt. Ein Faktum, das am einzelnen Menschen nur als Negation seiner individuellen Eigenschaften vorkommen kann.

Wenn wir nun noch die These hinzunehmen, dass die Menschenwürde sich am einzelnen Menschen sinnlich wahrnehmen oder spüren lassen soll, wird ihre beanspruchte Faktizität noch rätselhafter. Denn unsere sinnliche Wahrnehmung ist nun einmal strikt ans raum-zeitlich Bestimmte und Individuelle gebunden. Unsere Augen können immer nur so und so bestimmte, von einander unterschiedene Pferde sehen, aber keine nicht-räumliche, nicht-zeitliche, nicht-veränderliche Pferdheit, die allen einzelnen Pferden trotz ihrer individuellen Differenzen gemeinsam ist. Das können wir schon deshalb nicht, weil wir dazu streng genommen alle Pferde zusammen sehen müssten, auch die schon toten und die noch nicht geborenen.


Also, wer behauptet, die Menschenwürde sei ein sinnlich wahrnehmbares Faktum, der sollte schon ein wenig erläutern, welchen Begriff von Faktizität er dabei voraussetzt.




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Alethos
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Fr 27. Okt 2017, 13:02

Wenn ich es richtig verstehe, denkst du, dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll. Ein solche Würde, die als normative Forderung verstanden wird, ist natürlich nur über eine Regel erhältlich, eine solche Würde ist nicht etwas Individuelles, sondern Überindividuelles und hat nur Bestand durch Aktualisierung der Regel in einer normativen Praxis.

Das heisst aber nicht, dass es keine empirische Manifestation geben könne, die der Regel konkrete Anschauungsbeispiele gibt. Dass die Würde etwas sei, das jedem Menschen zukommen solle, schliesst ja nicht aus, dass sie ihm faktisch zukommt. Erfahrbar. Sichtbar. Fühlbar?



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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2017, 13:28

dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll
Ist nicht gerade auch das ganz individuelle Sein jedes Einzelnen, also seine Einzigartigkeit, was (neben anderem) den Wert ausmacht, der jedem innewohnt?




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Fr 27. Okt 2017, 13:51

Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 13:02
Wenn ich es richtig verstehe, denkst du, dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll. Ein solche Würde, die als normative Forderung verstanden wird, ist natürlich nur über eine Regel erhältlich, eine solche Würde ist nicht etwas Individuelles, sondern Überindividuelles und hat nur Bestand durch Aktualisierung der Regel in einer normativen Praxis.
Ja. Nur bin ich mit Hegel und den Hegelianern der Ansicht, dass die normative Forderung der Menschenwürde keine Ausgeburt einer "reinen" praktischen Vernunft ist, sondern dass sie einen "Sitz im Leben" hat, weil sie in bestimmten menschlichen Praxen und Institutionen implizit schon lange wirksam ist. Kants Bestimmung der Menschenwürde und die Erklärung der Menschenrechte sind zu verstehen als begriffliche Explikation jener impliziten praktischen Voraussetzungen und Ansprüche. Ich denke dabei vor allem (aber nicht nur) an die Praktiken der friedlichen Konfliktlösung durch unparteiliche Instanzen, d.h. an die Institutionen des Rechts. Denn im Grunde verallgemeinern die Menschenrechte nur Prinzipien, die schon lange in der Praxis der Rechtsprechung angewandt wurden. Also z.B., dass jeder Mensch vor dem Gesetz gleich sei, d.h. Anspruch auf gleiche Behandlung habe; dass der Richter das Recht "ohne Ansehung der Person" zu finden habe usw.

Insofern bin ich durchaus empfänglich für die These, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde etwas Faktisches sind. Aber sie haben eben ihre Faktizität in der Anwendung von rechtlichen und moralischen Normen, d.h. im rechtlich und sittlich geordneten Leben der Menschen. (Jörn will aber gerade von Normen und Regeln im Zusammenhang mit der Menschenwürde nichts wissen. Auch Du hast Dich eher skeptisch geäußert gegenüber einer normativen Fundierung der Menschenwürde.)

Das heisst aber nicht, dass es keine empirische Manifestation geben könne, die der Regel konkrete Anschauungsbeispiele gibt. Dass die Würde etwas sei, das jedem Menschen zukommen solle, schliesst ja nicht aus, dass sie ihm faktisch zukommt. Erfahrbar. Sichtbar. Fühlbar?
Ich bin sogar mit allen Pragmatisten seit Aristoteles der festen Überzeugung, dass die faktischen Anwendungen von Regeln den ontologischen und explanatorischen Vorrang vor expliziten, also in Worten formulierten Regeln haben. Grob gesagt läuft das auf die These hinaus, dass es explizite Regeln überhaupt nur geben kann, weil es faktische Beispiele von Regelanwendungen gibt. Aber natürlich sind und bleiben "Beispiele" oder faktische "Manifestationen" von Regeln stets normativ signifikant. In ihnen ist also immer die Forderung mit enthalten, dem Beispiel im eigenen Handeln zu folgen, nämlich in der Zukunft... Faktische Beispiele der Norm-Anwendung enthalten somit dennoch immer ein kontra-faktisches Moment. - Aber es kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu, nämlich die, dass man etwas nur als Beispiel einer Regel erkennen und beschreiben kann, sofern man die Regel versteht, die ihm zugrunde liegt. Darum ist es mit dem "direkten Sehen" oder "Spüren" so eine Sache...




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Alethos
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Fr 27. Okt 2017, 14:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 13:28
dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll
Ist nicht gerade auch das ganz individuelle Sein jedes Einzelnen, also seine Einzigartigkeit, was (neben anderem) den Wert ausmacht, der jedem innewohnt?
Doch, natürlich. Das ist ganz bestimmt so, dass dem Einzelnen durch sein ganz individuelles Sein Wert zukommt. Das glaube ich sogar ganz bestimmt.
Ich denke nur nicht, dass Würde mit dem Untergang des Individuums als Wert, der allen Individuen zukommt, mit untergeht.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 13:28
dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll
Ist nicht gerade auch das ganz individuelle Sein jedes Einzelnen, also seine Einzigartigkeit, was (neben anderem) den Wert ausmacht, der jedem innewohnt?
Im Prinzip schon. Aber mir fallen jede Menge menschliche Individuen ein, die sich durch einzigartige Schlechtigkeit, durch Niedertracht, Menschenverachtung, Hass, Grausamkeit... hervorgetan haben. Da besteht doch offenbar ein eklatanter Widerspruch zwischen ihrer prinzipiellen Menschenwürde und ihrer konkreten Schlechtigkeit.




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Fr 27. Okt 2017, 18:12

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 14:21
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 13:28
dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll
Ist nicht gerade auch das ganz individuelle Sein jedes Einzelnen, also seine Einzigartigkeit, was (neben anderem) den Wert ausmacht, der jedem innewohnt?
Im Prinzip schon. Aber mir fallen jede Menge menschliche Individuen ein, die sich durch einzigartige Schlechtigkeit, durch Niedertracht, Menschenverachtung, Hass, Grausamkeit... hervorgetan haben. Da besteht doch offenbar ein eklatanter Widerspruch zwischen ihrer prinzipiellen Menschenwürde und ihrer konkreten Schlechtigkeit.
Das hört sich so an, als könnte man die Würde mit schlechten, menschlichen Eigenschaften verringern. Als könnte man die Würde mit unwürdigem Verhalten Stück für Stück diminuieren, pro schlechte Tat ein Stück Würde weniger, bis dann keine Würde mehr übrig bleibt und sich sogar ein Minus-Würde-Saldo einstellt. Das erscheint mir nicht wirklich einleuchtend. Es kann ja die Würde auch und gerade von der Schlechtigkeit der Menschen unangetastet bleiben. Das ist wenigstens denkbar.



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Fr 27. Okt 2017, 20:54

Du setzt eben unentwegt voraus, dass die Würde ein Etwas, eine substantielle Gegebenheit am konkreten Menschen sei. Etwas, das zunehmen oder sich verringern kann. Das ergibt dann in der Tat einen Widerspruch: Etwas kann nicht zugleich de facto absoluten Wert haben und de facto von einzigartiger Bösartigkeit sein. Das versteht kein Mensch. Dennoch behauptest Du es implizit. Oder willst Du etwa abstreiten, dass es Menschen von einzigartiger Bösartigkeit gibt? Ich finde, es ist an Dir zu erklären, wie das mit ihrer faktischen absoluten Würde zusammengehen soll! Auf diese Erklärung warte ich schon eine ganze Weile... :)




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Fr 27. Okt 2017, 20:59

Ich will nicht abstreiten, dass es bösartige Menschen gibt, ich bin mir nur nicht sicher, ob die Bösartigkeit dann jeweils alles sei, was diese Person an sich hat.

Obwohl ich deinen Einwand schon höre, bringe ich dieses Beispiel :): Wenn ein Mensch glatzköpfig ist, kann er ja dennoch Linkshänder sein?
Oder so: Man kann doch seine Würde nicht verspielen?



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Fr 27. Okt 2017, 21:01

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 20:54
Etwas kann nicht zugleich de facto absoluten Wert haben und de facto von einzigartiger Bösartigkeit sein.
Auch bei etwas bin ich mir nicht über die Eindeutigkeit seines Seins sicher.



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Fr 27. Okt 2017, 21:26

Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 20:59
Obwohl ich deinen Einwand schon höre, bringe ich dieses Beispiel :): Wenn ein Mensch glatzköpfig ist, kann er ja dennoch Linkshänder sein?
Aber anders als Kahlköpfigkeit und Linkhändigkeit sind Würde und Bösartigkeit Wertbegriffe, die sich kontradiktorisch zueinander verhalten. Die Bösartigkeit besteht nämlich genau in der Verletzung der Würde Anderer!
Oder so: Man kann doch seine Würde nicht verspielen?
Aber nur dann nicht, wenn man sie - wie Kant, Bielefeld und viele andere... - als normativen Status versteht. Auch der Bösartige, der dauernd vorsätzlich die elementaren Rechte anderer verletzt, kann dann noch seine Würde als verantwortlich handelndes Subjekt behalten. Nur dass er leider seine Freiheit dazu gebraucht, Schuld auf sich zu laden. Und indem man ihm diese Schuld zuspricht, behandelt man ihn als einen verantwortlich handelnden Menschen. Denn nur wer für seine Handlungen selbst verantwortlich ist, kann überhaupt schuldig werden. Paradoxer Weise würdigt man ihn als autonomes Subjekt gerade dadurch, dass man ihm seine Schuld vorwirft. Auch in der Schuldigsprechung also wird er als autonomes Subjekt anerkannt. Anders sieht es z.B. aus bei einem Kampfhund, der wiederholt Kinder anfällt. Den spricht man nicht schuldig, sondern man beseitigt ihn, wie man andere natürliche Gefahrenherde beseitigt.




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novon
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Fr 27. Okt 2017, 22:08

Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 13:02
Wenn ich es richtig verstehe, denkst du, dass Würde etwas sei, das einem jeden ungeachtet seines individuellen Seins zukommen soll.
Vermutlich nicht "ungeachtet ... individuellen Seins", sondern unbedingt qua individuellen Seins (und nicht etwa qua abschätzender Anschauung individuellen Seins oder Urteilsbildung in Anbetracht individuellen Seins, etc.).




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Alethos
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Sa 28. Okt 2017, 00:07

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 21:26
Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 20:59
Obwohl ich deinen Einwand schon höre, bringe ich dieses Beispiel :): Wenn ein Mensch glatzköpfig ist, kann er ja dennoch Linkshänder sein?
Aber anders als Kahlköpfigkeit und Linkhändigkeit sind Würde und Bösartigkeit Wertbegriffe, die sich kontradiktorisch zueinander verhalten. Die Bösartigkeit besteht nämlich genau in der Verletzung der Würde Anderer!
Ich verstehe deinen Einwand noch immer nicht, es tut mir leid. Du gehst auf die normative Schiene, was nicht falsch ist, aber doch nicht allein richtig.

Du schreibst, dass einer, der stets Böses tut, seine Würde nur behalten könne, wenn man Würde als normativen Status verstünde. Soweit verstehe ich das so, dass ein bösartiger Mensch Würde nur deshalb habe, weil sie ihm durch einen regelbasierten Zuschreibungsakt zukomme. Aufgrund von Regeln, die von der konkreten individuellen Verfehlung absehen, könne man gewährleisten, dass jeder Mensch seine Würde habe. Und gerade, weil die Regel von allem Konkreten absieht, kann sie ungeachtet der individuellen Niedertracht des Subjekts auch auf dieses Anwendung finden.

Den Schluss, den ich aber noch nicht wirklich zu ziehen bereit bin, versuche ich an folgendem Gedankengang aufzuzeigen: Weil die Regel von allem Individuellen absieht, das Konkrete der individuellen Situation aussen vor lassen muss, dürfen auch die empirischen Manifestationen des guten oder bösen Menschen nicht berücksichtigt werden, d.h. die Güte und Bösartigkeit des Subjekts darf die Zuschreibung von Würde nicht begünstigen oder behindern. Ob er sich mies, fies, zerstörerisch, niederträchtig etc. verhält, darf den Zuschreibungsakt nicht tangieren. Darum, und hier kommt der Fehlschluss, darf man sich auch nicht auf die Würde als empirisches Faktum stützen, denn gerade in der individuellen Situation findet sich das Konkrete, das Niederträchtige oder Freundliche, von dem die Zuschreibung von Würde gerade abzusehen hat.

Das halte ich für idealisiert. Denn es scheint ja gerade nicht so zu sein, als gebe es eine allgemeine Würde, die zu einem normativen Allgemeingut erhoben worden wäre, die als Idee von Würde im Reich der Ideen exisitiert, von wo aus man sie durch Zuschreibungsakte jedem Individuum zukommen lasse ungeachtet seiner Individualiät. Vielmehr ist es so, dass das Subjekt gerade wegen seiner Individualität, wegen seines konkreten Menschseins seine Würde hat, und sie stellt einen empirischen Fakt dar wie sein individuelles Sein überhaupt.

Es gibt also, wenn ich das so sehe, zwei Perspektiven: die normativ-juristische und die empathisch-empirische. Letztere kommt gar nicht umhin, das konkrete Individuum zu betreffen und in den leuchtenden Augen des lebendigen Subjekts oder in der vollkommenen Zufriedenheit des toten Subjekts die Würde wahrzunehmen als Gefühl der tiefen Verbundenheit von Mensch zu Mensch. Denn hier überhaupt entfaltet sich das Miteinander in der konkreten Situation des Gegenüberseins, des Mitmenschseins.

Und darum, weil ich von konkreten zwischenmenschlichen Erfahrungen spreche, sehe ich sehr wohl keine kontradiktorische Relation zwischen Bösartigkeit und Würde, genauso wenig wie zwischen Linkshändersein und glatzköpfig sein. Dass ich im Konkreten eine bösartigen Menschen sehen kann, tangiert seine Handlung, aber nicht sein Menschsein als Ganzes, durch das er zu seiner Würde kommt.



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