Wahrheit/Wahrnehmung

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Quk
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Fr 15. Sep 2023, 21:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 20:03
Was wir wahrnehmen, ist nach meiner Einschätzung die Hand selbst.
Ja, kann schon sein. Aber die Hand selbst erzeugt bei unterschiedlichen Seh-Systemen (Biene, Mensch, Hund) unterschiedliche Farbqualia; diese sind keine Eigenschaften der Hand selbst, sondern des wahrnehmenden Wesens, vermute ich. Da kann ich schlecht sagen, die wahrgenommenen Qualia seien die Hand selbst. Sehr wohl aber kann ich sagen, dass dieses Wahrgenommene sich bezieht auf das tatsächliche Ding namens "meine linke Hand per se". Ich denke, das meinst Du und Searle, und ich stimme dem zu. Aber ich befürchte, Du missverstehst mich wieder in ähnlicher Weise wie im Heraklit-Faden :-) weil Du womöglich die Verschiedenheit einiger legitimer Aspekte in einen einzigen Mono-Aspekt pressen möchtest.

Jörn sagt: "Was wir wahrnehmen ..."

Welchen Aspekt meint hier Dein Begriff "was"?
Ist es das, "was" man mit dem finalen Geistesbild meint, also dem "Wahrnehmungs-Output"?
Oder ist es das, "was" man mit der "Identität des Gegenstands" meint, also dem "Wahrnehmungs-Input"?

Die Wahrnehmung ist ja eine Wurst. (Lass es eine vegane sein.) Jede Wurst hat zwei Enden. Ich möchte gerne wissen, an welchem Ende Du beginnst, sie aufzuessen, wenn Du sagst, "was wir wahrnehmen", beziehungsweise, "was wir essen". Wo beginnt das Essen? An welchem Ende? Links oder rechts? Wo beginnt die Wahrnehmung? An welchem Ende? Input oder Output? Oder gibt es da keine Kausalität, sondern eine zeitachsenfreie Korrelation: Wenn die tatsächliche Hand klatscht, klatscht zugleich, ohne Verzögerung, die Wahrnehmung dieser klatschenden Hand?

Du siehst, sogar das simple Wort "was" ist hier mehrdeutig. Ich denke, das sind die Feinheiten, die zu Missverständnissen führen.




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Quk
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Fr 15. Sep 2023, 21:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 20:05
Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 19:28
Stefanie, ich glaube, "identisch" heißt "exakt gleich in jeder Hinsicht".
Genau, zwei Gegenstände sind identisch, wenn sie alle Eigenschaften gemeinsam haben. Dann sind es allerdings nicht mehr zwei Gegenstände, sondern nur einer. Identität ist sozusagen das Verhältnis, was jeder Gegenstand zu sich selbst hat.
Ja, das sage ich auch.

"Hallo, Sie da, sind Sie Jörn Budesheim?"
"Jawohl, der bin ich."
"Gut, ich glaube, Sie sind tatsächlich mit ihm identisch."




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Stefanie
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Fr 15. Sep 2023, 21:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 19:39
John Searle hat geschrieben : Der größte Irrtum - vermutlich geht er zurück bis zu den alten Griechen - war ein falsches Verständnis von Wahrnehmung, das besagt: »Du kannst die wirkliche Welt nicht sehen.« Du kannst nur sehen, was in deinem eigenen Geist vorgeht, in deinem Sehsinn und den anderen Sinnen. Was dir bewusst ist, sind nur Repräsentationen, wie Kant sie nannte.
Gleich zu Beginn des Zitats macht Searle deutlich, worum es ihm geht. Er argumentiert gegen diese Position, die er für einen der größten Irrtümer der Philosophie hält, indem er eines ihrer Argumente angreift. Wir sehen die Tasse selbst, dafür argumentiert er. Nach Searle sehen wir nicht nur das, was in unserem eigenen Geist oder in unseren Sinnen vor sich geht, oder etwa nur unsere Vorstellungen, sondern wir sehen die Tasse selbst.

Die Tasse ist nicht identisch mit dem, was in unserem Geist vorgeht, die Tasse ist also nicht irgendwie in unserem Geist, wie z.B. die Halluzination. Wenn er sagt, dass die Tasse nicht mit unserer Wahrnehmung der Tasse identisch ist, dann meint er, dass die Tasse "da draußen" ist, ein Ding, das für sich selbst existiert und nicht etwas in unserem Kopf oder in unserem Geist oder in unserem Bewusstsein oder wo auch immer. Die Tasse ist nicht identisch mit unserer Wahrnehmung der Tasse bedeutet, dass die Tasse dort auf dem Tisch steht und nicht in unserem Kopf ist.

Dass die Wahrnehmung der Tasse (nicht) identisch mit der Tasse ist, soll also nicht bedeuten, dass die Wahrnehmung die Tasse trifft oder verfehlt.
Das mit der Tasse habe ich jetzt verstanden. Wirklich. Danke.

Wenn man jetzt:
"
Die Tasse ist nicht identisch mit unserer Wahrnehmung der Tasse bedeutet, dass die Tasse dort auf dem Tisch steht und nicht in unserem Kopf ist.

Dass die Wahrnehmung der Tasse (nicht) identisch mit der Tasse ist, soll also nicht bedeuten, dass die Wahrnehmung die Tasse trifft oder verfehlt."
zurück auf die eigene Hand überträgt, bedeutet dies, dass diese auch nicht in unserem Kopf oder in der eigenen Vorstellung ist. Oder wie Du im nächsten Beitrag schreibst, die Hand selbst wahrnehmen.
Das, was man über die eigenen Körpermerkmale an Vorstellungen hat, ist ja öfters mal nicht identisch mit dem Tatsächlichen, um es mal so zu beschreiben. Ich las den Satz von Searle und dachte, wie jetzt. Ein Philosoph ist der Auffassung, dass die eigene Hand nicht mit unserer Wahrnehmung identisch ist und befeuert noch diese Problematik?
Ich bin auch nicht auf das gekommen, was hier im letzten Satz steht. Die Wahrnehmung der eigenen Hand bzw. Tasse kann treffen oder verfehlen.
Habe ich das richtig verstanden?



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Timberlake
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Fr 15. Sep 2023, 21:27

Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 21:02

Welchen Aspekt meint hier Dein Begriff "was"?
Ist es das, "was" man mit dem finalen Geistesbild meint, also dem "Wahrnehmungs-Output"?
Oder ist es das, "was" man mit der "Identität des Gegenstands" meint, also dem "Wahrnehmungs-Input"?


Ich denke mal , dass das Interesse für dergleichen , im Vergleich zum Desinteresse meinesgleichen, im wesentlichen daraus resultiert , dass sich dort so richtig "schön", weil stets Ergebnisoffen , im Trüben fischen lässt. Mit Verlaub , das erinnert doch schon sehr an dem , was das Vorbild mancher zeitgenössischen Philosophie sei ..
  • Einhörner auf der Rückseite des Mondes Einhörner auf der Rückseite des Mondes
    Man könnte meinen, das Vorbild mancher zeitgenössischen Philosophie sei der Mann aus einem Nietzsche-Gleichnis: Er hat seinen Schlüssel auf einer dunklen Straße verloren, sucht aber emsig unter der einzigen Laterne; er weiß zwar, dass er den Schlüssel im schmalen Lichtkegel nicht finden wird, aber zumindest ist es dort schön hell.
Somit ich mich fürs Erste von der "Schlüsselsuche" nach der Wahrheit verabschiede .




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 08:09

Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 21:02
Aber die Hand selbst erzeugt bei unterschiedlichen Seh-Systemen (Biene, Mensch, Hund) unterschiedliche Farbqualia; diese sind keine Eigenschaften der Hand selbst, sondern des wahrnehmenden Wesens, vermute ich.
Wenn die Hand selbst unterschiedliche Farbqualia erzeugt, wie du schreibst, wieso sind es dann keine Eigenschaften der Hand selbst?




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 08:18

Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 21:02
Du siehst, sogar das simple Wort "was" ist hier mehrdeutig.
Diese "Mehrdeutigkeit", wie du es nennst, ist doch der Gegenstand der Sequenz hier in diesem Faden seit dem Zitat von John Searle. Das sind also keineswegs zwei Aspekte, die zusammengepresst, sondern durchaus unterschieden wurden. Was wir wahrnehmen ist die Tasse und nicht etwa "innere Bilder". Im Fall von Halluzinationen mag es gemäß John Searle anders sein.




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 08:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 08:09
Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 21:02
Aber die Hand selbst erzeugt bei unterschiedlichen Seh-Systemen (Biene, Mensch, Hund) unterschiedliche Farbqualia; diese sind keine Eigenschaften der Hand selbst, sondern des wahrnehmenden Wesens, vermute ich.
Wenn die Hand selbst unterschiedliche Farbqualia erzeugt, wie du schreibst, wieso sind es dann keine Eigenschaften der Hand selbst?
Na gut, ich denke, jetzt erreichen wir den Punkt, wo die Referenzen beliebig ausgelegt werden können. Ich stricke ein Netz von Beziehungen und beziehe jeden Knotenpunkt zu einem beliebigen anderen Knotenpunkt, weil alle irgendwie in einer Beziehung stehen. Und deshalb sage ich jetzt: Nein, die Qualia erzeugt nicht die Hand, sondern Apollo, der Sohn des Zeus, welcher erzeugt wird von der ZDF-Mediathek, die in Beziehung steht zum Internet, dessen Inhalt teilweise gefüllt wird durch Searle-Texte, die durch die Leserschaft interpretiert werden, wodurch weitere Buchstaben erzeugt werden in den Farben schwarz auf weiß, womit Identitäten sich offenbaren und alles in sich zu Eins verschmelzen lässt, und alles wird zu allem, eins zu allem, und alles zu einem, zu einer endlosen Beliebigkeit im Namen Gottes und des freiwilligen Atheismus und Apfelmuses und des Farbenlehrers Goethe und des Perpeto mobiles des Hermeneutischen Hamsterrads.

Ich erzeuge eine Pizza. Ute und Uwe essen sie. Ute findet die Pizza versalzen. Uwe findet sie zu fettig. Ja, ich bin der Mit-Erzeuger von Utes empfundener Salzigkeit. Ja, ich bin der Mit-Erzeuger von Uwes empfundener Fettigkeit. Denn ich habe diese Pizza erzeugt, welche jene Empfindungen mit-erzeugt. Genaugenommen sind meine Eltern die Mit-Erzeuger der Pizza, denn sie haben mich erzeugt. Strikt gesagt, ist der Urknall der Erzeuger der Pizza. Aber Utes und Uwes Empfindungen sind keine Eigenschaften von mir. Ich bin kein Solipsist. Diese Empfindungen geschehen in Ute und Uwe. Ich bin nicht Ute und Uwe. Sie sind keine Eigenschaften von mir. Ich bin nicht identisch mit denen.

Die Eigenschaften der Hand selbst sind nicht identisch mit den Qualia der Hand-Wahrnehmenden. Daher sehe ich keinen Grund, die Qualia als "Eigenschaften der Hand selbst" zu bezeichnen.
Zuletzt geändert von Quk am Sa 16. Sep 2023, 09:10, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 09:07

Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 21:02
Die Wahrnehmung ist ja eine Wurst. (Lass es eine vegane sein.) Jede Wurst hat zwei Enden. Ich möchte gerne wissen, an welchem Ende Du beginnst, sie aufzuessen, wenn Du sagst, "was wir wahrnehmen", beziehungsweise, "was wir essen". Wo beginnt das Essen? An welchem Ende? Links oder rechts? Wo beginnt die Wahrnehmung? An welchem Ende? Input oder Output? Oder gibt es da keine Kausalität, sondern eine zeitachsenfreie Korrelation: Wenn die tatsächliche Hand klatscht, klatscht zugleich, ohne Verzögerung, die Wahrnehmung dieser klatschenden Hand?
Ich weiß nicht, ob man deine Vorstellung von Wahrnehmung und meine in Einklang bringen kann :) Ich weiß auch nicht, ob ich in meiner Vorstellung irgendwo Platz für die Frage "Wo beginnt die Wahrnehmung?" habe. Ich habe schon Schwierigkeiten, diese Frage überhaupt zu verstehen. Hier ist der Grund: Wenn ich einen Stein in der Hand halte, dann bin ich in direktem Kontakt mit einem Teil der Wirklichkeit, in der der Stein und ich uns befinden. Das beruht natürlich auf Gegenseitigkeit, auch wenn der Stein keine Sensoren hat wie ich.

Ein weiterer Punkt, der in der bisherigen Sequenz wenig Beachtung gefunden hat, ist folgender: Ich glaube, dass wir in der Regel nicht einfach Objekte wahrnehmen, sondern Objekte, die in Sachverhalte eingebettet sind. Außerdem stehen wir den Dingen nicht kalt gegenüber, sondern es spielen immer Werte und Gründe eine Rolle, in welcher Weise auch immer. Wenn ich den Stein in meiner Hand wiege, stelle ich vielleicht fest, dass er die richtige Größe und Form hat, um über das Wasser zu springen.

Zur Veranschaulichung: Es gibt diese schematischen Bilder, da sieht man einen Kopf, meistens von der Seite, da ist ein Gehirn drin, außerhalb des Kopfes ist ein Objekt - sagen wir ein Baum - und dann werden Linien in den Kopf gezogen, so dass ich irgendwie im Kopf ein Bild von einem Baum habe. So stelle ich mir Wahrnehmung nicht vor :)




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 09:26

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 08:44
Na gut, ich denke, jetzt erreichen wir den Punkt, wo die Referenzen beliebig ausgelegt werden können.
Wenn wir wie Bäume an einem einzigen Platz verharren müssten, würden die Dinge für uns vielleicht so liegen. Aber wir triangulieren auf die vielfältigste Art und Weise. Z.b weil wir nicht nur einen Sinn haben, sondern dutzende. (Den Stein in der Hand spüre in vielfältiger Weise und ich sehe ihn) Z.b weil wir aus der Erfahrung schöpfen können. (Es ist nicht der erste Stein den ich übers Wasser geworfen habe) Und z.b weil wir in Kontakt mit vielen anderen Lebewesen sind, mit denen wir uns über die Dinge austauschen können. (Ich kann mit anderen über diesen Stein sprechen.) Auf diese Weise können sich die Referenzen gleichsam als "Vektoren" an bestimmten Punkten treffen und laufen nicht ins Beliebige oder zum Urknall. Unter anderem deshalb ist der Ausdruck "Triangulation" in der Sprachphilosophie und nach meinem Wissen auch in der Erforschung des Sprachlernens ein zentraler Begriff.

Wenn wir unseren Kindern die Farben beibringen, zeigen wir beispielsweise auf die blaue Tasse. Ihr Blick geht dann zur Tasse ... Und nach etlichen Versuchen, werden wir in der Regel feststellen können, dass die vielen Triangulationen zum Erfolg geführt haben. Würden alle solche Interaktionen zum Urknall laufen, wäre Kommunikation ausgeschlossen. De facto ist es aber so, dass wir Triangulieren - mit uns selbst und mit anderen.




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 09:39

Also Du setzt auf Korrelation statt Kausalität.

Das ignoriert sämtliche Empirie auf diesem Gebiet, und daher kann ich hier nicht folgen.

Hier steht eine Highspeed-Kamera; sie filmt eine Kröte und eine Fliege. Beide sitzen sich gegenüber. Ich kann keine Fliegen fangen, weil sie sehr schnell meine nahende Hand wahrnehmen. Aber die Zunge der Kröte ist noch schneller. Ich sehe den Film in Zeitlupe wie die Krötenzunge die Fliege erwischt. Offenbar besteht hier keine Korrelation zwischen Angriff und Wahrnehmung, andernfalls wäre die Fliege gleichzeitig weggeflogen. Es handelt sich hier um einen klar empirisch beobachtbaren kausalen, zeitverzögerten Signalverlauf. Diese Empirie ignoriere ich nicht. Ich halte es überhaupt für falsch, wenn die Philosophie, vor allem die Sprachphilosophie, alle Empirie außer Acht lasst.

Übrigens, Searle, den ich sehr schätze, wird in seinen Behauptungen hinsichtlich der Naturwissenschaften manchmal auch zu radikal oder zu ignorant, meiner Ansicht nach. Hierzu ein Zitat aus dem "John Searle"-Artikel in der Wikipedia im Abschnitt "Realismus und Relativismus":

"... Searle möchte konstruktivistische Thesen auf den Bereich der sozialen Realität beschränkt wissen. Entscheidend ist hier Searles Unterscheidung zwischen beobachterabhängigen und beobachterunabhängigen Phänomenen. Die soziale Welt besteht aus beobachterabhängigen Phänomenen, weswegen man von der Konstruktion sozialer Realitäten sprechen kann. Demgegenüber beschreiben die Naturwissenschaften beobachterunabhängige Phänomene, die folglich auch nicht konstruiert sind."

Diese Trennung ist veraltet spätestens seit dem Doppelspalt-Experiment; also auch die Naturwissenschaften beschreiben mittlerweile beobachterabhängige Phänomene. Quantenmechanische Effekte sind allem Anschein nach zutiefst vom Beobachter abhängig. -- Aber das nur am Rand bezüglich der Radikalität mancher Sprachphilosophie.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 09:47

Würden sich Kröte und die Fliege nicht in demselben physikalischen Feld befänden, wäre gar keine Interaktion möglich. Dass physikalische Körper einander gegenseitig beeinflussen, wenn natürlich auch in unterschiedlichen Graden, scheint mir empirisch absolut gesichert zu sein. Ich glaube nicht, dass ich oben irgendetwas, auch nur die winzigste Kleinigkeit behaupte, die in irgendeinem Konflikt mit empirischen Befunden besteht.




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Sa 16. Sep 2023, 09:58

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 09:26
Den Stein in der Hand spüre ...
"Spüre"? Aber "spüren" ist doch ein Zeitwort, Jörn. Beim Spüren läuft die Zeit. Wenn Du beim Illustrieren keine Zeitpfeile verwenden möchtest, zeichnest Du das "Spüren" vielleicht als einen Punkt oder als eine Wolke. Das halte ich für ein Versteckspiel :-) Denn meiner Ansicht nach ist das "Spüren" ein Prozess und kein einzelner Schnappschuss und überhaupt auch keine zeitfreie Beziehungsabstraktion oder Einbettungsabstraktion. Wo bleibt denn da die Praxis? Das Leben braucht doch Zeit. Zeit! Wo ist sie in Deiner Abstraktion? Gerne kann man vom "Spüren" einen Schnappschuss machen. Aber um aus dem Spüren eine Tätigkeit zu machen, bedarf es um mindestens zwei Schnappschüsse, und dann hat man zwei Enden, die man zu einem Pfeil verbinden kann.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 10:00

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 09:39
Es handelt sich hier um einen klar empirisch beobachtbaren kausalen, zeitverzögerten Signalverlauf.
Aber das ist doch ganz sicher falsch. Denn es fehlt doch komplett der Umstand, warum Kröten so sehr auf "Fliegenfangen" spezialisiert sind, das hat doch einen langen zeitlichen Vorlauf, der sicher zu einem guten Teil auch naturwissenschaftlich untersuchbar ist.

Zu dem handelt es sich bei dem Fall, den du beschreibst, vielleicht gar nicht um eine Wahrnehmung, sondern um einen kompletten Automatismus, der noch weit unterhalb der Bewusstseinsschwelle läuft, weil der Frosch ansonsten nicht so schnell sein könnte.




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Sa 16. Sep 2023, 10:05

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 09:58
"Spüre"? Aber "spüren" ist doch ein Zeitwort, Jörn
Argumentiere nicht dagegen, dass wir in der Zeit leben, im Gegenteil, in meiner Argumentation spielt die Zeit eine Rolle, siehe z.b den Aspekt der Triangulation. Ich argumentiere nur gegen deine "Zeit-Wurst". Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du aus dem Wahrnehmungen ein "kausales Event" machen mit jeweiligem Anfang und Ende. Aber das halte ich für abwegig aus Gründen, die ich in den Beiträgen angegeben habe.




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Sa 16. Sep 2023, 10:12

Bei der Krötenzunge spreche ich, erstens, nicht von der Evolution, sondern von diesem kausalen Ablauf des Zungen-Szenarios, und zweitens nicht von Bewusstseinsschwellen oder Automatismen, sondern einfach von der Kausalkette entlang des Zeitpfeils: Zungenangriff --> Wahrnehmungsverzögerung.

Redest Du nur über Werte? Ist es das? Werte sind freilich kausalfreie, abstrakte Begriffe. Zugestimmt. Aber wenn Du Wahrnehmung ins Spiel bringst, reden wir über Prozesse, denke ich, und die brauchen Zeit -- während des Wahrnehmens, nicht nur während der Evolution.




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Sa 16. Sep 2023, 10:51

Würde es vielleicht Missverständnisse vermeiden, wenn Du Deinen Begriff der "Wahrnehmung" spezifisch erweitern würdest, wie beispielsweise "Wahrnehmungs-Instanz" oder irgendwas in der Art? Ich meine, wenn wir in ein Gebäude gehen, wo man Pizza isst, dann gehen wir nicht in die Pizza, sondern in die Pizzastube. Wir erweitern bestimmte Begriffe, um sie zu spezifizieren, wobei das Kernthema beibehalten wird: Pizzabäcker, Pizzastube, Pizzateller. "Wahrnehmung" allein, als Begriff, ist in Deinen Gedanken offenbar nur eine einzige bestimme Sache; in meinen Gedanken hingegen, kann Wahrnehmung sowohl eine Instanz sein in einem abstrakten Bedingungsnetz, als auch ein Vorgang sein. -- Es kam jetzt schon mehrmals vor, dass ich bei einem Diskussionsgegenstand zweierlei vor Augen hatte und Du einerlei, und ich durch Deine nicht näher spezifizierte Wortwahl nicht genau wusste, welche Seite meines Zweierleis Du gerade bedenkst. Ich glaube, dieses Problem liegt hier nun auch vor, mit dem nicht näher spezifizierten Wort "Wahrnehmung", welches Du manchmal verwendest, als enthielte es einen Zeitpfeil ("spüren"), den Du eigentlich ablehnst. Das verwirrt mich.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 10:59

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 10:12
Redest Du nur über Werte?
Wieso "nur"? Auch! Oder möchtest du bestreiten, dass es in dem Beispiel mit dem Stein am Wasser um Wahrnehmungen geht? Geht es in Krötenbeispiel deines Erachtens nicht um Werte, schließlich stellt die Fliege für die Kröte einen Wert dar. Außerdem macht es einen Unterschied, ob die Kröte wirklich eine Fliege registiert oder irgendeinen anderen Fleck.

Außerdem sehe ich nicht, dass du irgendeinen Grund dafür anbietest, warum die Kausalkette "draußen" bei der Fliege beginnen sollte. Schließlich gehört der Fliegenerkennungsmechanismus zum Spiel dazu und der ist offensichtlich da, bevor diese spezielle Fliege ins Spiel kommt.

Noch mal: ich argumentiere nicht (nicht!) dagegen, dass bei Wahrnehmungen Zeit im Spiel ist. Ich argumentiere speziell gegen deine Zeit-Wurst. Neben vielen anderen Problemen, kann ich nicht sehen, wie du mit diesem Modell richtige von falschen Wahrnehmungen unterscheiden möchtest.




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Sa 16. Sep 2023, 11:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 10:00
Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 09:39
Es handelt sich hier um einen klar empirisch beobachtbaren kausalen, zeitverzögerten Signalverlauf.
Aber das ist doch ganz sicher falsch. Denn es fehlt doch komplett der Umstand, warum Kröten so sehr auf "Fliegenfangen" spezialisiert sind, das hat doch einen langen zeitlichen Vorlauf, der sicher zu einem guten Teil auch naturwissenschaftlich untersuchbar ist.

Zu dem handelt es sich bei dem Fall, den du beschreibst, vielleicht gar nicht um eine Wahrnehmung, sondern um einen kompletten Automatismus, der noch weit unterhalb der Bewusstseinsschwelle läuft, weil der Frosch ansonsten nicht so schnell sein könnte.
Deine Begründung verstehe ich leider nicht. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Dieser Dialog klingt für mich so: Ich sage, das Wasser koche und Dampf steige auf. Du sagst, das sei ganz sicher falsch, denn im Kühlschrank sei Joghurt ohne Knochen, und zudem stünde im Keller eine Schaufel.




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Sa 16. Sep 2023, 11:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 10:59
Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 10:12
Redest Du nur über Werte?
Wieso "nur"? Auch! Oder möchtest du bestreiten, dass es in dem Beispiel mit dem Stein am Wasser um Wahrnehmungen geht? Geht es in Krötenbeispiel deines Erachtens nicht um Werte, schließlich stellt die Fliege für die Kröte einen Wert dar. Außerdem macht es einen Unterschied, ob die Kröte wirklich eine Fliege registiert oder irgendeinen anderen Fleck.

Außerdem sehe ich nicht, dass du irgendeinen Grund dafür anbietest, warum die Kausalkette "draußen" bei der Fliege beginnen sollte. Schließlich gehört der Fliegenerkennungsmechanismus zum Spiel dazu und der ist offensichtlich da, bevor diese spezielle Fliege ins Spiel kommt.

Noch mal: ich argumentiere nicht (nicht!) dagegen, dass bei Wahrnehmungen Zeit im Spiel ist. Ich argumentiere speziell gegen deine Zeit-Wurst. Neben vielen anderen Problemen, kann ich nicht sehen, wie du mit diesem Modell richtige von falschen Wahrnehmungen unterscheiden möchtest.
Ich bestreite die Werte nicht. Nur: Ich weiß nicht, wann, und wann nicht, Du über Werte sprichst. Das verwirrt mich. Vielleicht würde es mir helfen, wenn Du den Begriff "Werte" miteinbringst, wenn Du über "Wahrnehmung" redest. Wahrnehmungswerte, Werte-Instanz, wertende Wahrnehmung, oder was auch immer, Hauptsache die Leserschaft kann erkennen, um welches Detail es gerade geht. Das Wort "Wahrnehmung" allein ist schlichtweg zu schwach für einen derart intellektuellen Tiefgang, denke ich. (Ebenso das Wort "Fluss" im Heraklit-Faden.)




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Sa 16. Sep 2023, 13:00

Die Ausdrucksweise der Forscherin, die ich jetzt zitieren möchte, ist nicht unbedingt nach meinem Geschmack, gelinde gesagt. Das ist natürlich auch einer der Gründe, warum Philosophen gebraucht werden, um für solche Forschungen einen angemessenen Begriffsrahmen zur Verfügung zu stellen. Nichtsdestotrotz sind diese Ausschnitte aus dem Buch für unseren Zusammenhang ziemlich sprechend. Ich hoffe, die Wurst-Theorie ist damit ad acta gelegt :)
Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn hat geschrieben : Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen» auf und mache daraus im Gehirn eine Art Foto. Heute wissen wir es besser. Unser Bild der Welt ist keine Fotografie.

Ihr Gehirn muss sich … auf das Trommelfeuer von Sinneseindrücken einen Reim machen, damit Sie nicht die Treppe hinunterfallen oder zum Mittagessen für ein wildes Tier werden. Wie aber dechiffriert Ihr Gehirn diese Sinnesdaten nun, damit es weiß, was als Nächstes zu tun ist? Würde es nur mit den mehrdeutigen Informationen arbeiten, die ihm unmittelbar zur Verfügung stehen, dann würden Sie im Meer der Ungewissheit treiben und so lange wild herumfuchteln, bis Sie endlich die bestmögliche Reaktion gefunden hätten. Glücklicherweise verfügt Ihr Gehirn über eine zusätzliche Informationsquelle: das Gedächtnis. Ihr Gehirn kann sich auf lebenslange frühere Erfahrungen stützen – und nicht nur Ihre eigenen, sondern auch fremde Erfahrungen, erworben durch Freunde, Bücher, Filme und andere Quellen.

Ihr Gehirn kombiniert Informationen von außerhalb und innerhalb Ihres Kopfes und schafft daraus alles, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken und durch Berührung erfahren.

Die Wissenschaft ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen.

Vorhersagen sind auch der Grund, warum Sie Lichtwellen als Objekte wahrnehmen. Warum Sie aus Druckschwankungen in der Luft erkennbare Laute heraushören. Warum aus chemischen Stoffen Geruchs- und Geschmackserlebnisse werden. Sie sind der Grund, weshalb Sie die schwarzen Schnörkel auf dieser Seite als Buchstaben und Worte und Ideen identifizieren können. Warum es sich unbefriedigend anfühlt, wenn in einem Satz das letzte Wort.

Und nun der letzte Nagel am Sarg des gesunden Menschenverstandes: All diese Vorhersagen finden in gegenläufiger Richtung zu unserem Empfinden statt. Sie und ich scheinen zuerst Sinneserfahrungen zu machen und dann zu handeln. Sie sehen einen Feind und heben danach das Gewehr. Aber in Ihrem Gehirn kommt die Sinneserfahrung erst an zweiter Stelle. Ihr Gehirn ist so verschaltet, dass es Sie zuerst aufs Handeln vorbereitet – zum Beispiel den Finger auf den Abzug zu legen – und Ihre Körperbuchführung so ausrichtet, dass sie diese Bewegung unterstützt.

Die Vorhersagen, die Ihr Handeln steuern, kommen ja nicht aus dem Nirgendwo. Hätten Sie nicht als Kind schon Nägel gekaut, würden Sie das als Erwachsener vermutlich auch nicht tun. Hätten Sie die bedauerlichen Worte, die Sie Ihrem Freund an den Kopf geworfen haben, nie gelernt, könnten Sie sie jetzt nicht aussprechen. Hätten Sie nie Geschmack an Chips gefunden … Nun, Sie wissen vermutlich, worauf ich hinauswill.




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