Schlösser, die im Monde liegen

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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 12:00

Nauplios hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 11:50
Ja gut, das entspricht jetzt dem allgemeinen Verständnis von Wirklichkeit als einer Summe von Objekten, Tatsachen, Sachverhalten ... , die ontologisch dingfest gemacht werden können, denen man das Attribut "wirklich" zuweist.
Was heißt "ontologisch dingfest gemacht"? Was wirklich ist, kann sich uns ja auch nicht zeigen.




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 12:05

Nauplios hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 11:27
Am deutlichsten wird das ex negativo in dem Satz:

"Geht es in diesem Beispiel wirklich um die Wirklichkeit des Stuhls?" -
Und ich hatte extra so formuliert, um etwas anders zu zeigen :-) nämlich das, was ich bei den anderen Beispielen auch schon vermutet hatte.




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Nauplios
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Mi 31. Jan 2024, 12:06

AufDerSonne hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 22:30
Wieso nicht die Wirklichkeit direkt erfassen? Wieso irgendetwas ausschliessen oder einbinden oder was auch immer?

Es kommt doch auch auf den Zusammenhang an, ob, "Ich habe ein Fahrrad", heisst, ich habe wirklich ein Fahrrad. Je nach Situation ist es nicht nötig zu sagen, dass das jetzt besonders wirklich sein muss. Und bei diesem Beispiel auch auf den Ton. Wenn jemand weiss, was er sagt, wenn er sagt, ich habe ein Fahrrad, dann wird man ihm das auch glauben. Also da kann doch ganz viel anderes eine Rolle spielen, wie wirklich das am Schluss ist, dass ich ein Fahrrad habe. Wenn jemand sagt, ich habe wirklich ein Fahrrad, dann tönt das für mich nach mangelndem Selbstvertrauen.

Auch das Beispiel mit dem verwechselten Stuhl hinkt für mich. Da ist doch eine Vorgeschichte, wieso diese beiden Stühle nicht dort waren, wo sonst. Das macht den Satz, doch, das ist wirklich dein Stuhl, nicht glaubhafter oder unglaubhafter.

Vielleicht habe ich das Gefühl, dass du mehr von der Überzeugungskraft einer Aussage sprichst als von der Wirklichkeit. Von der Wirklichkeit muss man niemanden überzeugen.
Und irgendwie hat alles was du sagst nur indirekt mit der Wirklichkeit zu tun. Man macht einen Umweg. Also das so mein Gefühl.

Und dieser Begriff der Lebenswelt als das Selbstverständliche braucht ganz krass einen Vorstellung von Normalität. Gibt es die Lebenswelt nur für normale Menschen?
Nein, es gibt sie selbst für mich. ;)

"Wieso nicht die Wirklichkeit direkt erfassen? (...) Und irgendwie hat alles was du sagst nur indirekt mit der Wirklichkeit zu tun. Man macht einen Umweg. Also das so mein Gefühl."

Dein Gefühl täuscht dich nicht. Man macht einen Umweg. Ja, das ist so. Schlimm ist das aber nicht. Philosophie ist eine Disziplin der Nachdenklichkeit. Umwege zählen hier zu den Bereicherungen.




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Nauplios
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Mi 31. Jan 2024, 12:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 12:00
Nauplios hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 11:50
Ja gut, das entspricht jetzt dem allgemeinen Verständnis von Wirklichkeit als einer Summe von Objekten, Tatsachen, Sachverhalten ... , die ontologisch dingfest gemacht werden können, denen man das Attribut "wirklich" zuweist.
Was heißt "ontologisch dingfest gemacht"? Was wirklich ist, kann sich uns ja auch nicht zeigen.
Ich bin mir nicht sicher, ob das "nicht" im letzten Satz gewollt ist oder versehentlich da steht. - Aber davon abgesehen, etwas ontologisch dingfest machen bedeutet, etwas unter dem Aspekt seines Vorhandenseins, seines Bestehens, seiner Substanzhaftigkeit, seiner Gegen-ständlichkeit, seines Seinscharakters ... zu betrachten.

Die sprachliche Form des "Dingfest-Machens" ist: "Es gibt". - Damit sind nicht nur Dinge wie Brillen, Autos und Türen gemeint. "Es gibt" auch Sachverhalte oder Tatsachen. Sachverhalte bestehen. Sie sind vorhanden, zählen zum Seienden. - Beim "Dingfest-Machen" geht es um das Seiende, um das, was Gegenstand der Ontologie ist. Dieses Seiende läßt sich in verschiedene Regionen aufteilen. Husserl spricht deshalb von "regionalen Ontologien".




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 13:29

Nauplios hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 12:38
Ich bin mir nicht sicher, ob das "nicht" im letzten Satz gewollt
Das war gewollt. Denn gibt doch sicher auch wirkliches, was wir nicht dingfest machen können. Vielleicht ist sogar das meiste wirklich, ohne, dass wir es fassen können, die Wirklichkeit ist groß und wir sind klein :-)




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Nauplios
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Mi 31. Jan 2024, 19:48

"Wirklichkeitswerte sind gerade keine Wahrheitswerte – sie kennen Abstufungen, und vor allem sind sie gebunden an Kontexte, Umstände, Praktiken und an die Macht eines Miteinander, aus welchem das Individuum sich eher abzuleiten hat, als daß es diesem (wie denn auch? ‚wirklich‘?) voraus läge. Wirklichkeitswerte und mögliche Formen von mit ihnen verbundenen Ordnungen des Wirklichen sind Gegenstand einer historischen Phänomenologie. Und diese wiederum kennt unter dem Oberbegriff ‚Wirklichkeit‘ letztlich nur einen Plural von Wirklichkeitsformen.“ (Petra Gehring; Wirklichkeit. Blumenbergs Überlegungen zu einer Form in: "Journal Phänomenologie" 35/2011; S. 77)

Der implikative Charakter des Wirklichen ist gebunden an die Optionen, welche eine historische Epoche bietet. Wirklichkeiten unterliegen der Formung, einer epochenspezifischen Formung. Das ist kein erkenntnistheoretisches Programm, sondern eine anthropologisch orientierte Auseinanderlegung von Wirklichkeitskonstellationen und Wirklichkeitskonstitutionen, die durch historische Studien gewonnen werden.




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 20:00

Ein Wahrheitswert ist wahr, falsch, unbestimmt, irgendetwas dazwischen. Was ist ein Wirklichkeitswert? Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 20:12

Ich wollte gerade mal in meiner Einführung zu Blumenberg blättern, um zu sehen, was sich darin zum Begriff Wirklichkeit findet. Aber ich habe was besseres, sehe ich gerade, nämlich das Buch "Blumenberg lesen", dort gibt es ein ganzes Kapitel zu dem Thema, hier der Beginn:
Blumenberg lesen, Manfred Sommer hat geschrieben : Blumenberg nennt Wirklichkeit ein »implikatives Prädikat« (Vorbemerkungen 3), weil wir das Wörtchen »wirklich« üblicherweise nicht verwenden, solange in unserem Leben alles so reibungslos und konfliktfrei läuft, wie es soll. Wir haben es zu tun mit einem Begriff, der gar keinen sprachlichen Repräsentanten zu haben braucht und doch unvermerkt und ungesagt unsere Sicht der Dinge und unseren Umgang mit ihnen zu durchformen vermag. Ein solcher Begriff hat »vorwiegend pragmatische Funktion« und geht darin auf (Vorbemerkungen 3). Weder hat man ihn selbst fertig zur Verfügung, noch lässt er sich bei anderen jederzeit vorfinden. Vielmehr bedarf es bestimmter Ereignisse oder Umstände, die uns dazu zwingen, ihn explizit werden zu lassen. Das gilt auch für das Abstraktum ›Wirklichkeit‹. Allerdings meinen wir damit den Inbegriff all dessen, was wirklich ist. Die Wirklichkeit ist dann eine, und sie umfasst alles, was es gibt. Die Thematisierung von Wirklichkeit geschieht also indirekt, nämlich auf dem Weg über die Erfahrung, dass Gegenstände und Sachverhalte, die bislang in fragloser Selbstverständlichkeit als wirklich gegolten hatten, es gar nicht sind. Erst eine Enttäuschung, ein Misslingen, einScheitern öffnet uns die Sicht auf das, was wir vorher stets einschlussweise für wirklich gehalten hatten. Diese Indirektheit der Erschließung von Wirklichkeit fasst Blumenberg in die heuristische Formel: »Wirklich ist, was nicht unwirklich ist.« Als Leitfaden zur Suche nach dem, was wirklich ist, empfiehlt Blumenberg deshalb »den Umweg über das, was jeweils für unwirklich gehalten wird« (Vorbemerkungen 3; H 806). Leider lässt er über die Darstellung seiner Ergebnisse hinaus kaum erkennen, wie er Gebrauch von diesem Leitfaden macht, um zu ihnen zu gelangen. Da es Erfahrungen im Lebensvollzug sind, die bestimmen, was wirklich ist und was nicht, ist der Wirklichkeitsbegriff relativ, also nur zu verstehen in Bezug auf individuelle Sichtweisen oder kulturelle Lebensformen oder epochale Bewusstseinsarten. Deshalb gibt es nebeneinander und nacheinander viele verschiedene Wirklichkeiten. Mit dieser Pluralität ist für Blumenberg ausgeschlossen, dass ›eigentlich‹ wirklich allein das wäre, was wir hier und heute wirklich nennen. Für einen solchen »Absolutismus der Gegenwart«, den Blumenberg verachtet, wäre unsere aktuelle Wirklichkeit die endgültig gültige »wirkliche Wirklichkeit«.
Und die Volltextsuche bringt 0 Treffer für den Begriff Wirklichkeitswert in dem gesamten Buch.




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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 20:24

Blumenberg lesen, Manfred Sommer hat geschrieben : Blumenberg nennt Wirklichkeit ein »implikatives Prädikat« (Vorbemerkungen 3), weil wir das Wörtchen »wirklich« üblicherweise nicht...
Müsste es nicht eigentlich stattdessen heißen: "Blumenberg nennt "Wirklichkeit" ein »implikatives Prädikat«... " Wirklichkeit müsste doch eigentlich in Anführungszeichen stehen, damit wir sehen, dass wir an dieser Stelle nicht über die Wirklichkeit sprechen, sondern über den Begriff "Wirklichkeit"?




Timberlake
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Mi 31. Jan 2024, 23:04

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 12:30
Timberlake hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 21:34

zumindest ist das für dich Metaphysik und das will ja schon mal was heißen. Hätte man schließlich dergleichen genau so gut mit dem Hinweis auf "Schlösser, die im Monde liegen" als bloße Phantasterei abtun können.
Phantasie hat nicht zwingend Phantasterei zur Folge, schon gar nicht "bloße Phantasterei", die sich "abtun" ließe. Ohne Schlösser, die im Monde liegen, wäre manches Schloß auf Erden nicht gebaut worden. Es gibt keine Wissenschaft ohne Phantasie.

Es gibt aber auch keine "Metaphysik" ohne Phantasie. ...

Michael7Nigl hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 01:58

"Metaphysik" ist für mich kein Schimpfwort, sondern ich gebrauche es alltagssprachlich, wie es im Wörterbuch steht:

Metaphysik = philosophische Disziplin oder Lehre, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins behandelt

Schopenhauer lehnt sich, wie er selbst schreibt, stark an Kant an - sein erkenntnistheoretischer Ansatz ist transzendentalphilosophisch. Wie er aber dazu kommt, den Willen mit dem Ding an sich gleich zu setzen, ist mir rätselhaft. .
.. und wenn @Michael7Nigl rätselhaft ist , wie Schopenhauer dazu kommt , den Willen mit dem Ding an sich gleich zu setzen, so möglicherweise deshalb, weil bei ihm selbiges dazu nicht ausreichenden Maße zur Verfügung steht. Möglicherweise kann ihm ja eine Metapher dabei hilfreich sein. ...
Wikipedia hat geschrieben :
Absolute Metapher ... Blumenberg

Wie das Beispiel zeigt, nisten sich absolute Metaphern vornehmlich im semantischen Umfeld solcher Begriffe ein, denen keine unmittelbare, sinnliche Anschauung entspricht – wie etwa „Wahrheit“, „Freiheit“, „Staat“ oder „Geschichte“. Im Anschluss an Kant nennt Blumenberg solche Begriffe Ideen. Der eigentlich exemplarische Fall einer absoluten Metapher wäre also ein anschauliches Bild für einen Gegenstand, der sich grundsätzlich jeder Veranschaulichung entzieht.

Absolute Metaphern sind demnach (behelfsmäßige) Anschauungen für (prinzipiell unanschauliche) Ideen.
Wobei mir allerdings mitunter die Metaphysik als eben das erscheint , als .. (behelfsmäßige) Anschauungen für (prinzipiell unanschauliche) Ideen. Demnach könnte man Schopenhaues "Wille" und damit sein Begriff des Willlens, der wohlgemerkt sowohl lebende , wie auch tote Materie umfasst, als eine (behelfsmäßige) Anschauung , für die (prinzipiell unanschauliche) Idee des "Ding an Sich" auffassen. Zumal das "Ding an Sich" ebenfalls nicht zwischen lebende und toter Materie unterscheidet. Ich würde allerdings zum besseren Verständnis , nach meiner Meinung , vielmehr von einer Eigenschaft dieser Idee sprechen. Womit zugleich dem die Basis entzogen wird , was @Michael7Nigl rätselhaft ist und zwar wie es dazu kommt, den Willen mit dem Ding an sich gleich zu setzen.
  • "Weil jegliches Wesen in der Natur zugleich Erscheinung und Ding an sich, oder auch
    natura naturata und natura naturans, ist; so ist es demgemäß einer zwiefachen
    Erklärung fähig, einer physischen und einer metaphpysischen. Die physische ist allemal
    aus der Ursache; die metaphysische allemal aus dem Willen: denn dieser ist es, der in der
    erkenntnißlosen Natur sich darstellt als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, in Thier
    und Mensch aber den Namen Willen erhält."
    Arthur Schopenhauer ... Parerga und Paralipomena
Eigenschaften werden den " physischen" Dingen "metaphpysisch" zugeordnet , nicht gleichgesetzt...




Michael7Nigl
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Do 1. Feb 2024, 00:23

Warum sollte es mir an Phantasie dafür fehlen? Seltsamerweise endet Dein Zitat meines Beitrages genau an der Stelle, wo ich mir vorzustellen versuche, was Schopenhauer meint.

Sich irgendetwas auszudenken genügt noch nicht, um damit eine valide philosophische Position zu beziehen. Genau das nimmt Schopenhauer mit seiner Idee des metaphysischen Willens aber sehr selbstbewusst für sich in Anspruch. Zu Recht oder zu Unrecht wage ich, wie gesagt, nicht zu beurteilen.
Timberlake hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 23:04
Eigenschaften werden den " physischen" Dingen "metaphpysisch" zugeordnet , nicht gleichgesetzt...
Dieser Satz ist Schwachsinn. Eine Eigenschaft ist ein "zum Wesen einer Person oder Sache gehörendes Merkmal", das hat mit Metaphysik nichts zu tun. Im Übrigen habe ich nie behauptet, dass Eigenschaften den Dingen gleichgesetzt würden.




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Nauplios
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Do 1. Feb 2024, 12:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 20:00
Ein Wahrheitswert ist wahr, falsch, unbestimmt, irgendetwas dazwischen. Was ist ein Wirklichkeitswert? Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.
Petra Gehring bezeichnet mit dem Ausdruck "Wirklichkeitswert" ein Spektrum an Abstufungen zwischen wirklich und nicht-wirklich:

"Es könnte sein, dass die um 1900 sich herausformende Moderne auf einer unvermerkten, aber drastischen Vereinfachung des (ihren Wahrheitsvorstellungen zugrundeliegenden) populären und wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnisses aufsetzt. Wir heute kennen nur das Ergebnis: Wir verwenden den Ausdruck 'wirklich' als ein zweiwertiges Prädikat. Etwas ist entweder wirklich oder aber nicht. Graustufen dazwischen — etwa einen stufenlosen Wirklichkeitswert: mehr oder weniger wirklich — kennen wir ebenso wenig wie harte Wirklichkeitskonkurrenzen, also 'gleich Wirkliches', das so solide nebeneinander steht wie etwa (ich nenne Modi des Wirklichen, die man in der griechischen Antike wohl im Plural unterschieden hätte) die nüchterne Wachheit des Tages, der Rausch der Berauschten, die Vision des Sehers, der Traum der Nacht — und vermutlich mehr." (Link)

Der Begriff "Wirklichkeitswert" taucht auch in soziologischen Studien zu Themen wie Vertrauen oder Macht auf:

"Wenn Wirklichkeitswerte keine Wahrheitswerte, sondern aus gesellschaftlichen Prozessen und Konjunkturen geborene Kultivierungen sind, besitzt auch ein Transformationsprozess wie Ökonomisierung ein solches Kultivierungspotenzial." (Michaela Abdelhamid; Die Ökonomisierung des Vertrauens; S. 71)

Mit dem Begriff "Wirklichkeitswert", der die Spannbreite der Wirklichkeit auffächert, ist zwangsläufig eine grundlegende Skepsis gegenüber allen Formen von Ontologie verbunden:

"Ich möchte vielmehr vorschlagen, die Annahme preiszugeben, es gebe überhaupt 'ontologische Unterscheidungen' – und zwar zugunsten der Vorstellung eines Vorrangs der Übergänge auch dort, wo es ums Reale geht. Es ist eben nicht gesagt, dass sich Erfahrungen nicht auch aus Formen und Gestalten heraus zu Ordnungen fügen können, deren Wirklichkeitswerte lediglich mehr oder weniger von dieser Welt sind und die also umstrittenen Wirklichkeitswert haben. Wäre es so, lenkte das Schema von den Dingen als Zwischenstücken zwischen 'Seinsbezirken' ohne Not ins Holzschnitthafte hinein. Ontologien sind zwar nichts Schlimmes. Sie sind nur eben philosophisch witzlos. Eben deshalb lasse man nach kurzem Probebetrieb doch besser wieder von ihnen ab." (Petra Gehring; "Operative Ontologien. Technikmaterialismus als prima philosophia?" - in: Zeitschrift für Medien und Kulturforschung 8/2-2017; S. 155)




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Nauplios
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Do 1. Feb 2024, 12:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 20:24
Blumenberg lesen, Manfred Sommer hat geschrieben : Blumenberg nennt Wirklichkeit ein »implikatives Prädikat« (Vorbemerkungen 3), weil wir das Wörtchen »wirklich« üblicherweise nicht...
Müsste es nicht eigentlich stattdessen heißen: "Blumenberg nennt "Wirklichkeit" ein »implikatives Prädikat«... " Wirklichkeit müsste doch eigentlich in Anführungszeichen stehen, damit wir sehen, dass wir an dieser Stelle nicht über die Wirklichkeit sprechen, sondern über den Begriff "Wirklichkeit"?
Stellvertretend für viele Interpreten:

"Für Hans Blumenberg hat jede Epoche ihre eigene Wirklichkeit, die durch das Studium ihrer Metaphern entschlüsselt werden kann. Um nämlich mit den übermächtigen Realitäten fertigzuwerden, erzählen sich die Menschen seit jeher Geschichten, aus denen die Geschichte hervorgeht." (Hannes Bajohr; "Blumenberg und die Wirklichkeit"; in: philosophie Magazin; 05/2022)




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Nauplios
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Do 1. Feb 2024, 12:40

Zur Frage von Implikation als einem Verfahren bei Blumenberg gibt es einen aufschlussreichen Aufsatz von Rüdiger Campe mit dem Titel "Implikation. Eine Rekonstruktion von Blumenbergs Verfahren" (in: Blumenbergs Verfahren. Neue Zugänge zum Werk; hrsg. v. Hannes Bajohr und Eva Geulen; S. 17-46). Darin heißt es:

"Auch wenn 'Implikation' nicht als eigenes Konzept herausgestellt wird, ist sie doch ein wiederkehrender Ausdruck in Blumenbergs Schriften mit bestimmten Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten. Sie ist ein Ausdruck, der sich seit den 1960er Jahren in der Beschreibung des Vorgehens festsetzt. Der Versuch, Implikation als Verfahren zu rekonstruieren, wird sich auf die Paradigmen zu einer Metaphorologie und Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans sowie Vorträge konzentrieren, die unter dem Titel Realität und Realismus veröffentlicht worden sind, und abschließend die beiden revidierten Anfangsteile der Legitimität der Neuzeit und die Höhlenausgänge als Testfälle in den Blick nehmen. Auch wenn er zu bestimmten Zeiten im Hintergrund bleibt, verschwindet der verfahrensanleitende Ausdruck 'Implikation' aus Blumenbergs Vokabular nicht wieder, nachdem die Paradigmen zu einer Metaphorologie und die Vorträge zum Wirklichkeitsbegriff ihn seit 1960 ins Spiel gebracht haben. Auch nach den Metaphernstudien im engeren Sinne behält Implikation ihre Funktion und Bedeutung und wird durch ihren Anteil am Wirklichkeitsbegriff vielleicht sogar noch wichtiger." (S. 17)




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Do 1. Feb 2024, 13:07

Ist bei Blumenberg von "Wirklichkeiten" die Rede, darf man bei diesem Plural nicht an die gängige Vorstellung "Jeder lebt in seiner eigenen Welt" denken oder an die Einübung eines "postmodernen" Relativismus.

"Es verdient explizit gemacht zu werden, dass die von Blumenberg so genannten Regionen, die durch ihre Autonomie die Bedingung erfüllen für die Rede von den Wirklichkeiten in denen wir leben, nicht im Sinne einer ontologischen Bestimmung zu verstehen sind. Es geht nicht um vollständige Beschreibung aller möglichen Seinsbereiche, sondern um Einsicht in die Formen der geistigen Produktivität von Menschen. Die Wirklichkeiten in denen wir leben sind nicht Gegenstand der Ontologie, sondern der philosophischen Anthropologie. Und was Blumenberg mit seiner Pluralisierung der Wirklichkeit schon im Titel seines kleinen Aufsatzbandes bekanntgibt, ist die These, dass die Kultur in ihren der Verselbständigung fähigen Geltungssphären die humane Strategie gegen den Absolutismus der Wirklichkeit ist." (Birgit Recki; "Der Mensch und seine Wirklichkeiten. Hans Blumenberg über die Eigendynamik der Kultur"; in: weiter denken. Journal für Philosophie; 1/2020)




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Birgit Recki hat geschrieben : Es geht nicht um vollständige Beschreibung aller möglichen Seinsbereiche, sondern um Einsicht in die Formen der geistigen Produktivität von Menschen. Die Wirklichkeiten in denen wir leben sind nicht Gegenstand der Ontologie, sondern der philosophischen Anthropologie.
Warum können die Wirklichkeiten, in denen wir leben, nicht sowohl Gegenstand der Ontologie, als auch der philosophischen Anthropologie sein? Um ein Beispiel zu geben: Unsere Sichtweise auf die Wirklichkeit, die sowohl synchron als auch diachron variabel sind, gehören doch ebenso zu dem, was es gibt, wie Atome, geistigen Produktivität des Menschen, schwarze Löcher oder die ganzen Zahlen.




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Do 1. Feb 2024, 14:19

Nauplios hat geschrieben :
Do 1. Feb 2024, 12:01
"Ich möchte vielmehr vorschlagen, die Annahme preiszugeben, es gebe überhaupt 'ontologische Unterscheidungen' – und zwar zugunsten der Vorstellung eines Vorrangs der Übergänge auch dort, wo es ums Reale geht. Es ist eben nicht gesagt, dass sich Erfahrungen nicht auch aus Formen und Gestalten heraus zu Ordnungen fügen können, deren Wirklichkeitswerte lediglich mehr oder weniger von dieser Welt sind und die also umstrittenen Wirklichkeitswert haben. Wäre es so, lenkte das Schema von den Dingen als Zwischenstücken zwischen 'Seinsbezirken' ohne Not ins Holzschnitthafte hinein. Ontologien sind zwar nichts Schlimmes. Sie sind nur eben philosophisch witzlos. Eben deshalb lasse man nach kurzem Probebetrieb doch besser wieder von ihnen ab." (Petra Gehring; "Operative Ontologien. Technikmaterialismus als prima philosophia?" - in: Zeitschrift für Medien und Kulturforschung 8/2-2017; S. 155)
Höchstinteressant finde ich das. Danke für den Hinweis auf Petra Gehring. Wieder was gelernt. Neulich wurde hier gefragt, ob es einen philosophischen Fortschritt gäbe. Über graduelle Wirklichkeitswerte nachzudenken -- das, zum Beispiel, ist für mich neu und in meinen Augen ein gutes Beispiel für einen philosophischen Fortschritt. Phänomenologisch jedenfalls fasziniert mich diese Idee der nichtbinären Wirklichkeitswerte weitaus mehr als die heideggersche Lyrik der verschiedenen Seins-Zustände.




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Do 1. Feb 2024, 16:24

Nauplios hat geschrieben :
Do 1. Feb 2024, 13:07
Ist bei Blumenberg von "Wirklichkeiten" die Rede, darf man bei diesem Plural nicht an die gängige Vorstellung "Jeder lebt in seiner eigenen Welt" denken oder an die Einübung eines "postmodernen" Relativismus.
Und wie ist es damit: Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit? Könnte man das sagen?
Ich habe mir schon vorher einmal die Frage gestellt, ob eigentlich die Realität für alle gleich ist. Oder eben auch jeder in seiner eigenen Realität lebt und sie auch macht.



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Nauplios hat geschrieben :
Do 1. Feb 2024, 13:07
Ist bei Blumenberg von "Wirklichkeiten" die Rede, darf man bei diesem Plural nicht an die gängige Vorstellung "Jeder lebt in seiner eigenen Welt" denken oder an die Einübung eines "postmodernen" Relativismus.
AufDerSonne hat geschrieben :
Do 1. Feb 2024, 16:24
Und wie ist es damit: Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit? Könnte man das sagen?
Nauplios hat geschrieben :
Do 1. Feb 2024, 13:07
"Es verdient explizit gemacht zu werden, dass die von Blumenberg so genannten Regionen, die durch ihre Autonomie die Bedingung erfüllen für die Rede von den Wirklichkeiten in denen wir leben, nicht im Sinne einer ontologischen Bestimmung zu verstehen sind. Es geht nicht um vollständige Beschreibung aller möglichen Seinsbereiche, sondern um Einsicht in die Formen der geistigen Produktivität von Menschen. Die Wirklichkeiten in denen wir leben sind nicht Gegenstand der Ontologie, sondern der philosophischen Anthropologie. Und was Blumenberg mit seiner Pluralisierung der Wirklichkeit schon im Titel seines kleinen Aufsatzbandes bekanntgibt, ist die These, dass die Kultur in ihren der Verselbständigung fähigen Geltungssphären die humane Strategie gegen den Absolutismus der Wirklichkeit ist." (Birgit Recki; "Der Mensch und seine Wirklichkeiten. Hans Blumenberg über die Eigendynamik der Kultur"; in: weiter denken. Journal für Philosophie; 1/2020)




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Do 1. Feb 2024, 17:16

Apropos Mond, Schlaftraum, Wirklichkeitswerte und Petra Gehring; sie spricht hier ein paar inspirierende Sätze ab 33:40:





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