Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Fr 22. Mär 2024, 07:52
Salutitutti hat geschrieben : ↑ Do 21. Mär 2024, 22:52
Wir [sehen] dort nicht etwas anderes als (visuelle) Repräsentationen.
Ich selbst vertrete einen direkten Realismus. Das heißt, während du sagst, dass wir dort nichts anderes als (visuelle) Repräsentationen sehen, denke ich, dass wir dort den Tisch selbst sehen. Nach meiner Einschätzung sehen wir nicht unsere Repräsentationen, sondern die Dinge selbst. Eigentlich denke ich, dass wir normalerweise Tatsachen wahrnehmen, zum Beispiel, dass der Tisch festlich gedeckt ist, aber das lasse ich erst einmal beiseite.
Dass wir Tatsachen sehen und nicht einfach nur disparate Dinge, würde ich wohl bestätigen. Wenn wir auch Einzelnes aus der Gesamtansicht isolieren können, um es als Einzelnes in den Blick zu nehmen, finden wir diese Dinge eingebettet in Tatsachen, auch wenn wir sie uns nicht immer bewusst machen.
Leider bin ich nicht sehr standfest, was die Unterscheidung von Antirealismus und Realismus anbelangt. Ich versuche das einmal mit eigenen Worten aufzudröseln: Antirealismus sei die These, dass die Dinge (in maximaler Form: dir ganze Realität) durch Menschen (z.B. den Geist) erzeugt und in Existenz gehalten werden, so. das Recht, moralische Gebote Gedanken oder Zahlen etc.. Alles das existiere nicht durch sich selbst in eigenständiger Weise, sondern weil Menschen durch Konvention oder soziale Praktiken dafür sorgen, dass sie existieren. Dagegen behauptet der Reamismus eine Existenz in Autonomie, d h. dass auch Moral und Gedanken eigenständig existieren, wenn sie auch von Menschen gedacht werden. Zahlen in dieser realistischen Deutung wären demnach vielleicht Artefakte, weil wir sie erschaffen haben (wie Buchstaben), und doch existieren Zahlen selbständig in der Ordnung der quantifizierten Realität. Die Realität oder wenigstens ihre Gesetzmässigkeiten lassen sich mit Zahlen darstellen, nicht, weil wir übereingekommen wären, dass dem so sei, sondern weil die Informationen der Natur sich quantifizieren lassen. Zahlen und ihre Verhältnisse zueinander wären in dieser Lesart real insofern, als sie gar nicht negoziabel sind. Wir können nicht verhandeln darüber, dass 5+7=12. Es ist so, weil die Realität so ist. Genau deshalb lassen sich kinetische Kräfte beim Raketenstart berechnen, weil diese Kräfte sich genau so entwickeln , wie wir es berechnen können. Eine Abmachung, dass sich die Rakete anders verhalten solle unter gegebenen Umständen wäre unrealistisch.
Ich tendiere zum Realismus, auch wenn ich sage, dass wir nicht die Gegenstände selbst sehen, sondern die Wirklichkeit dieser Gegenstände als Repräsentationen. Wenn eine Biene den Gegenstand "Tisch" sieht, sieht sie ihn in anderen Farben, als wir mit menschlichen Augen. Aber die Wahrnehnung der Biene ist in keiner Weise falscher als unsere Wahrnehnung. Ihr Sinnesapparat zeigt ihr diese Realität des Tisches, welche uns verborgen bleibt. Ihre Wahrnehmung müsste aber die genau Gleiche sein, wenn es sich nicht um Repräsentationen handelte? In diesem Sinne würde ich behaupten, ohne ganz sicher zu sein, das individuelle Repräsentationen objektiv sind, sie sind nicht verhandelbar. Wir haben die Eindrücke, die wir haben, weil die Wirklichkeit uns diese liefert. Repräsentationen wären so gesehen aber objektiv und nicht individuell-subektiv. Wir beide sehen denselben Tisch, wenn wir auf ihn veweisen, aber wir sehen nicht das Gleiche. Wir haben andere Perspektiven auf ihn und wenn auch die individuellen Eindrücke subjektiv sind (da ich es bin, der einen Eindruck hat) so sind sie doch durch unsere empirische Praxis dahingehend aufeinander abgestimmt, dass wir intersubjektiv verlässliche Aussagen machen können. Das gelingt uns auch bei Erinnerungen , wenn wir uns über etwas unterhalten, das uns nicht mehr vorliegt. Wir unterhalten uns über jene Repräsentation des Dings in der Erinnerung ohne Schwierigkeit.
Ich verstehe deine Position so, dass wir die Gegenstände genau so sehen, wie sie sind, und das bestreite ich nicht. Nur sorgen Repräsentationen nach meinem Verständnis nicht für einen indirekten Realismus. Unsere kognitiven Fähigkeiten sind aufeinander durch Praxis, Einübung, durch die Evolution unserer Sinnesapparate aufeinander eingespielt. Ja, in Tat und Wahrheit sehen wir dasselbe (jener Gegenstand dort), aber nicht das Gleiche (leicht unterschiedliche Farben, vielleicht auch nicht gleich scharfe Konturen etc.) Das, was wir sehen, ist wohl direkt das, was dort steht: ein hübsch gedeckter Tisch für den Sonntagsbrunch. Aber wir sehen nicht das Gleiche, insofern wir nicht dieselben Augen haben.
Nun aber denke ich, dass dies nicht in einen Antirealismus führt, weil diese individuellen Perspektiven realistisch und objektiv sind. Auch ein Farbenblinder sieht nicht falsch, er sieht objektiv genau das, was ist und zwar gegeben seine Sinnesstörung. Störung nennen wir sie nur, weil sie von dieser austarierten Wahrnehmung mesoskopischer Dinge abweicht und daher als Abnormal gilt. Aber dass eine Wahrnehmung abnormal ist, heisst nicht, dass es eine falsche Wahrnehmung wäre.
In der Regel verständigen wir uns ohne Probleme über die individuellen Ansichten und bilden durch kontinuerlichen Abgleich eine intersubjektive Realität des Sonntagstisches.
Vieleicht führt dies zu weit zu behaupten, dass ein direkter Realismus das Subjektive zu stark unterdrückt. Denn wenn wir nichts hinzutun können bei der Wahrnehmung der Dinge, gäbe es doch auch keine Subjektivität, die objektiv genannt werden könnte? Wie soll es denn sonst wahr sein, dass ich eine Perspektive auf etwas einnehmen kann, wenn das was ich sehe in jedem Fall das direkte Ding wäre? Oder was wäre die Rolle des Subjekts überhaupt noch wert, wenn alles absolut direkt und niemals in keiner Weise subjektiv?
Meine Grossmutter sieht den Tisch verschwommen und das ist kein Augenfehler, sondern ihre individuelle Realität. Der Tisch scheint verschwommen und er ist es auch - ganz objektiv im Auge des Betrachters. Und kein Sinnesapparat kann von sich sagen, dass seine Rezeption der Wirklichkeit diejenige sei, nach der sich die Biene oder meine Grossmutter zu richten hätten. Aber genau das wollen wir und suchen wir: Eine Wahrheit die so objktiv ist, dass sich alle menschliche Fehlbarkeit an ihr messen können. Aber hierfür brauchen wir nicht einen direkten Realismus zu postulieren (der dann auch die Aufgabe hätte aufzuzeigen, wer oder was im Streitfall die finale Deutungshoheit über das Wahrgenommene habe.) Die gemeinsame Öffentlichkeit wird durch die
Pluralität unserer objektiven Wahrnehmungen nicht gefährdet.
Mir gefällt der Gedanke der Öffentlichkeit als Raum des Gebens und Nehmens von Gründen. Damit so etwas funktionieren kann, braucht es ein gemeinsames Realitätsverständnis oder wenigstens eine pragmatische Grundeinstellung. Wir sehen auch unter dem präzisesten Mikroskop und den besten Theorien immer unscharf, nie das ganze Bild. Bruchstücke und wir als Individuen sind angehalten zum Kompromiss. Zu Zwischenresultaten und nie abschliessenden Wahrheiten. Darum sehe nicht, warum diese Öffentlichkeit uniform objektiv sein soll, wenn sie doch ebenso Platz bietet für Pluralität und Divergenz, Interpretatation und Mutmassung. Die Öffentlichkeit wird dadurch nicht unterminiert, im Gegenteil doch gestärkt wegen der Vielfalt unserer Bestrebungen, die Wahrheit herauszufinden?