Consul hat geschrieben : ↑ Mi 1. Mai 2024, 02:21
Nichtpsychologische Gedanken (im Sinne Freges als propositions oder "Sätze an sich" [Bolzano]) existieren angeblich in Freges Drittem Reich, Poppers Welt 3 oder Platons Ideenhimmel. Wenn es ein solch abstrakt-immaterielles Paralleluniversum gäbe, dann wären seine Bewohner nicht mit den Sinnen wahrnehmbar, sondern nur mit dem "Auge des Geistes", einer übersinnlichen Vernunft- oder Verstandesanschauung (rationale/intellektuale Intuition).
Ich habe solche Diskussionen schon oft geführt, und fast immer kommt irgendwann der Hinweis auf den Ideenhimmel. Eine Art Kampfbegriff, den die Antirealisten anscheinend brauchen. Aber für mich ist das ein Pappkamerad. Die Methode funktioniert immer so, dass man dem anderen Begriffe unterjubelt, die man dann gegen ihn verwenden will, unabhängig davon, was wirklich gesagt wurde. Abstrakte Entitäten sind aber nicht in einem Himmel, was ich auch nicht geschrieben habe, sondern "nirgendwo", weil sie keine Dinge in Raum und Zeit sind. Der Materialist betrachtet die abstrakten Dinge eben wie die einzigen Dinge, die seine eigene Ontologie zuläßt, nämlich raumzeitliche Dinge, und fragt sich, wo sie sind oder wie sie erschaffen werden etc. Aber diese Frage stellt sich nur dem Materialisten, aufgrund seiner eingeschränkten Ontologie, die in der Regel nicht einmal begründet wird.
All diese Argumente setzen den Materialismus stets bereits als wahr und erwiesen voraus. Dass der Materialist abstrakte Entitäten nicht in seine Ontologie integrieren kann, ist aber kein Argument gegen abstrakte Entitäten, sondern ein Argument gegen die Materialismus.
Dann kommt der Hinweis auf den Ideenhimmel und so weiter. Stattdessen könnte sich der Materialist genauso fragen, ob seine eigene Ontologie mächtig genug ist.
Hierzu eine Bemerkung aus der Philosophie der Mathematik. In der Philosophie der Mathematik z.B. ist der Realismus eine sehr verbreitete Position. In einem Buch über die Philosophie der Mathematik von Jörg Neunhäuserer heißt es:
"In einer Befragung von 931 Philosophen durch PhilPapers ist der Platonismus in Bezug auf abstrakte Gegenstände die am häufigsten vertretene Position, und unter Mathematikern scheint der Platonismus noch wesentlich verbreiteter zu sein als unter Philosophen."
Was damit gemeint sein könnte, kann man den folgenden Zeilen entnehmen:
"[Ich, Jörg Neunhäuserer bin] Anhänger eines platonischen Realismus in der Ontologie der Mathematik, eines Rationalismus in der Erkenntnistheorie der Mathematik und einer wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Mathematik von den anderen Wissenschaften. Das heißt, dass [ich der Überzeugung bin], dass die Gegenstände der Mathematik unabhängig von mentalen Vorgängen und jenseits der physikalischen Raum-Zeit existieren, dass wir mathematische Erkenntnisse durch unmittelbare rationale Einsicht und logische Deduktion gewinnen und dass die Mathematik durch ihre methodische Praxis klar von allen anderen Wissenschaften unterschieden ist. Diese Position ist nicht originell, eher konservativ und in der Philosophie der Mathematik umstritten. Vielleicht ist [meine] Perspektive typisch für einen Mathematiker, der sich mit der Philosophie der Mathematik beschäftigt."
Mit anderen Worten: Zahlen sind gemäß dieser weit verbreiteten Position nicht im Kopf also nichts Psychologisches. Das denkt auch der deutsche Mathematiker Peter Scholze, der vor einiger Zeit mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde: "Ich denke tatsächlich, dass die Zahlen unabhängig von uns sind."
Mathematische Erkenntnisse werden durch unmittelbare rationale Einsicht und logische Deduktion gewonnen, schreibt Neunhäuserer, das hat meines Erachtens nichts mysteriöses, es sei denn man ist Materialist.
Einer der entscheidenden Punkte ist hier die Frage der Geltung, für die der Materialist natürlich kein Platz haben kann, weil Geltung nichts Materielles ist. Gemäß Bettina Fröhlich vertritt der Physiker Roger Penrose (*1931) in seinem Werk "The Road to Reality" die These, dass es von großem Vorteil sei, in Anknüpfung an Platon mathematischen Strukturen eine eigene Realität zuzuschreiben. Durch die Annahme der »Objektivität der mathematischen Wahrheit« erhalte man einen »Maßstab, der weder von unseren individuellen Meinungen noch von unserer besonderen Kultur abhängt«.