Erstens stimmt es nicht, dass die Neurowissenschaftler "keine Ahnung" haben, was das Verhältnis (insbesondere das existenzielle und funktionale Abhängigkeitsverhältnis) zwischen dem (bewussten und unbewussten) Geist und dem Gehirn betrifft; und zweitens haben wir im Licht all unseres naturwissenschaftlichen Wissens über bewusste Lebewesen hinreichenden vernünftigen Grund zu der Annahme, dass allen Bewusstseinsvorgängen konstitutive Mechanismen zugrunde liegen, die rein neurophysiologischer Natur sind—auch wenn jene noch nicht genau identifiziert sind, und deren Funktionsweise noch nicht genau geklärt ist.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 6. Mai 2024, 07:29Ava Noë hat geschrieben : Es gibt zwei Behauptungen, über die sich "alle" einig sind, die sich mit den Neurowissenschaften der Kognition und des Bewusstseins beschäftigen. Die erste ist, dass das Gehirn für alles verantwortlich ist, und die zweite ist, dass wir keine Ahnung haben, wie das Gehirn das macht. Und ich glaube, dass es eine Spannung zwischen diesen beiden Grundannahmen gibt.
Die Lösung des Rätsels ist jedenfalls in der höchst komplexen elektrochemischen Dynamik neuronaler Netzwerke zu finden. Den Wechsel vom Zustand des Nichtbewusstseins zum Zustand des Bewusstseins und umgekehrt kann man als eine Art Phasenübergang auffassen, durch den sich bestimmte Aktivitätsmuster im ZNS schlagartig ändern.
Der "freie Wille" ist ein großes und weites Thema; aber es ist jedenfalls ein Irrtum anzunehmen, dass Materialisten notwendigerweise Deterministen sind. Ich persönlich halte es allerdings für ausgeschlossen, dass sich der (hauptsächlich von Theologen propagierte) antideterministische Willenslibertarismus (wie von Chisholm beschrieben) in stimmiger Weise mit dem Materialismus vereinbaren lässt.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 6. Mai 2024, 07:29Matthias Eckoldt im Gespräch mit Markus Gabriel hat geschrieben : MATTHIAS ECKOLDT
[...] Da gab es einiges an Erkenntnispessimismus, der teilweise bis in eine geradezu depressive Stimmungslage reichte. Ich erinnere mich an Formulierungen, dass die Neurowissenschaft noch auf dem Stand von »Jägern und Sammlern« sei. Zugleich gab es aber auch die großen Debatten über den freien Willen, die von den Neurowissenschaftlern angestoßen wurden.
"[E]ach of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing—or no one—causes us to cause those events to happen."
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"Wenn wir handeln, ist jeder von uns ein unbewegter Erstbeweger. Indem wir tun, was wir tun, bewirken wir den Eintritt bestimmter Ereignisse, und nichts—oder niemand—bewirkt, dass wir den Eintritt jener Ereignisse bewirken."
[© meine Übers.]
(Chisholm, Roderick M. On Metaphysics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1989. p. 12)
Ich bin kein Hellseher, was den zukünftigen Erfolg der materialistisch-naturalistisch verfahrenden Hirnforschung betrifft; aber ich wage nichtsdestoweniger zu behaupten, dass das Rätsel des Bewusstseins entweder von den Neurowissenschaftlern oder von niemand anderem gelöst wird—gewiss nicht von irgendeiner Pseudowissenschaft auf panpsychistischer oder sonstiger esoterisch-mystisch-okkultischer Basis.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 6. Mai 2024, 07:29Felix Häusler, Neuromythologie, Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung hat geschrieben : Allzu oft bleibt nach der Lektüre eines neurowissenschaftlichen Fachartikels wenig mehr als die ernüchternde »Na und?«-Frage. Typischerweise enden viele dieser Publikationen mit ähnlichen, stets auf die Zukunft verweisenden Äußerungen. Beliebt ist die Standardfloskel, dass es zwar »noch großer Forschungsanstrengungen bedarf, um das Phänomen XY zu verstehen«, die sicher bald einmal gewonnenen »Einsichten in die zugrunde liegenden biologischen Prozesse« letztlich aber zur Entwicklung ganz neuer Anwendungen beziehungsweise Therapien führen werden. Gerne wird zur Rechtfertigung des Grabens zwischen Erklärungsanspruch und Datenlage auf Zeit gespielt. Noch stecke man zwar in den Anfängen, so die Erklärung, aber schon bald seien fundamentale Durchbrüche im Verständnis von Gehirn und Geist zu erwarten. Für die Wissenschaftshistoriker Michael Hagner und Cornelius Borck ist es geradezu »typisch für das Feld, dass ›bahnbrechende Resultate‹ unter Verweis auf die zwar bereits sehr fortschrittliche, aber noch nicht voll ausgereifte Technologie stets für eine nicht mehr ganz so ferne Zukunft in Aussicht gestellt werden.«
["Man setzt also auf das, was Karl Popper einen »versprechenden Materialismus/promissory materialism« nannte. Man sagt, sehr bald oder auch erst in 200 Jahren werden wir es sehen,... (Markus Gabriel)]
Der entschuldigende Verweis auf die Kinderschuhe, in denen die Neurowissenschaft derzeit noch steckt, ist durchaus berechtigt, denn deren empirische Forschung hängt nun einmal maßgeblich vom neurotechnologischen Fortschritt ab; und überhaupt darf nicht vergessen werden, dass…
Mein Verdacht ist, dass die meisten Pessimisten oder Defätisten hinsichtlich einer neurowissenschaftlichen Lösung des hard problem of consciousness hauptsächlich Angst um ihr verklärtes religiöses, mystisches, spirituelles oder romantisches Weltbild haben. Sie wollen nicht, dass die wissenschaftliche "Entzauberung" der Welt nun auch unsere Empfindungen und Gefühle erfasst."The human brain is the most complex entity we know of. It contains at least 90 billion neurons (nerve cells). Each of these is a complex information-processing device in its own right and interacts with about 1,000 other neurons. Understanding this degree of complexity is a daunting task."
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"Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Gebilde, das wir kennen. Es enthält mindestens 90 Milliarden Neuronen (Nervenzellen). Jedes davon ist in sich ein komplexer informationsverarbeitender Apparat, der mit ungefähr 1.000 anderen Neuronen interagiert. Diesen Grad an Komplexität zu verstehen, ist eine einschüchternde Aufgabe."
[© meine Übers.]
(Seth, Anil, ed. 30-Second Brain. London: Icon Books, 2017. p. 6)