Das Schöne in der Musik

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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Mi 12. Jun 2024, 16:35

Wahrheiten sind immer absolut, das ist eine analytische Wahrheit, sonst wären es halt keine Wahrheiten.




Wolfgang Endemann
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Mi 12. Jun 2024, 18:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 12. Jun 2024, 16:35
Wahrheiten sind immer absolut, das ist eine analytische Wahrheit, sonst wären es halt keine Wahrheiten.
Das ist nicht nur ein sehr schlichtes Verständnis von Wahrheit, es mündet auch notwendigerweise im absoluten Relativismus. Denn zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit müßten wir schon Gott sein, über den view from nowhere verfügen.Wahrheiten, die nur empirisch zu erlangen sind, wären überhaupt nicht zu erlangen, weil man Allgemeinaussagen nie verifizieren, höchstens falsifizieren kann. Es bliebe so nur ein Haufen zusammenhangloser Aussagen übrig, deren Behauptung von Nichtexistenz empirisch bewiesen ist, die Komplementärmenge der Menge aller empirisch widerlegten Aussagen, die Menge von allem, von dem man weiß, daß es nicht ist. Und eine irreduzible unbeschränkte Menge von Protokollsätzen, über die eine Übereinkunft erzielt werden muß. Da macht es viel mehr Sinn, von gut bestätigten Wahrheiten zu reden, die man, solange man nicht durch neue Erkenntnisse zum Umdenken gezwungen wird, vorläufig oder überwiegend für wahr hält; die unter bestimmten Bedingungen, die eventuell einmal benannt werden müssen, als bedingt wahr gelten dürfen. So ist das ja auch bei subjektiven Wahrheiten, das sind solche, die unter den Voraussetzungen eines bestimmten Subjekts wahr/richtig, aber nicht verallgemeinerbar sind.
Nun ja, es gibt einige, die den absoluten Wahrheitsbegriff vertreten, warum nicht auch hier. Ich halte es mehr mit dem hypothetischen Denken, das sich nicht für das wenige, was man für absolut wahr halten kann, sondern für das viele, das nur statistisch oder nur annähernd oder eben nur unter bestimmten Bedingungen gesagt werden kann, interessiert. Und für das ganz große Denken, das notwendigerweise nur eine gewagte Spekulation sein kann.




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Jörn Budesheim
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Mi 12. Jun 2024, 18:37

Timberlake hat geschrieben :
Di 11. Jun 2024, 22:22
Wenn es darum geht , einen "perfekten Song" zu produzieren , so gibt es da anscheinend schon einige absolute musikalische Wahrheiten , die man zumindest in Betracht ziehen sollte ..
Wenn es eine Methode gäbe, gute Kunst zu produzieren, gäbe es keine gute Kunst.




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Jörn Budesheim
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Mi 12. Jun 2024, 19:16

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 12. Jun 2024, 18:36
Das ist nicht nur ein sehr schlichtes Verständnis von Wahrheit, es mündet auch notwendigerweise im absoluten Relativismus. Denn zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit müßten wir schon Gott sein, über den view from nowhere verfügen.
Dieses schlichte Verständnis von Wahrheit nennt man Realismus.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 12. Jun 2024, 18:36
Denn zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit müßten wir schon Gott sein, über den view from nowhere verfügen.
Ist das wahr?




Wolfgang Endemann
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Mi 12. Jun 2024, 19:40

@ Timberlake, @ Jörn Budesheim
Methoden können hilfreich sein, eine Idee künstlerisch umzusetzen, aber gute Kunst, dem stimme ich zu, ist nie auf eine Methode zurückzuführen, sondern gegebenenfalls auf die Idee, die sich der Methode bedient hat. Denn eine Methode realisiert einen mechanischen Vorgang, hat eine große Bedeutung in der handwerklichen Ausführung der Kunstproduktion, was nicht nichts ist, hat aber keinen Anteil an deren kreativem und innovativem Prozeß.




Timberlake
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Do 13. Jun 2024, 00:18

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 12. Jun 2024, 19:40
@ Timberlake, @ Jörn Budesheim
Methoden können hilfreich sein, eine Idee künstlerisch umzusetzen, aber gute Kunst, dem stimme ich zu, ist nie auf eine Methode zurückzuführen, sondern gegebenenfalls auf die Idee, die sich der Methode bedient hat. Denn eine Methode realisiert einen mechanischen Vorgang, hat eine große Bedeutung in der handwerklichen Ausführung der Kunstproduktion, was nicht nichts ist, hat aber keinen Anteil an deren kreativem und innovativem Prozeß.
@ Wolfgang Endemann


... genau . Die Methode realisiert einen mechanischen Vorgang und hat eine große Bedeutung in der handwerklichen Ausführung der Kunstproduktion. Wenn man denn die angesagten Ryhtmen kennt , wie seiner Zeit den 3/4 Takt des Walzers , so kann man dergleichen "handwerklich" genau so "schön" umsetzen, wie die besagte Popchordformel , bestehend aus den Harmonien C , G , Am, F und nicht zu vergessen den "wohlklingen" Intervallen ...



. nur muss man in der Musik für einen kreativen und innovative Prozeß tatsächlich handwerklich bewandert sein ? ....
zeit.de hat geschrieben :
Wie John Lennon einmal eine äolische Kadenz verwendete
...
Da weder John noch Paul noch George Noten lesen, noch Noten schreiben können, sind sie ständig am Zupfen und Klimpern und so geschieht es auch, dass sie im Keller von Jane Ashers Haus (Pauls Freundin) vierhändig am Klavier spielen und den entscheidenden Akkord zu "I Want To Hold Your Hand" finden. "Oh you-u-u...got that something" singt John und Paul schlägt diesen Akkord an, und John sagt "Spiel das noch mal" und das war’s.
...
P.S. Frage an John Lennon: "Haben Sie denn in "It Won’t Be Long" äolische Kadenzen verwendet?
John Lennon: "Ich hab bis zum heutigen Tage keine Ahnung, was das ist. Für mich klingt das nach exotischen Vögeln."




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Quk
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Do 13. Jun 2024, 03:20

Methode ist Anleitung.

_____________________________________________________________________

Anleitung zündet Spontaneität; Spontaneität verlässt Anleitung.

In vielen guten Arbeiten steckt Anleitung und Spontaneität.
In vielen guten Arbeiten steckt nur Spontaneität.

Nur auf Spontaneität zu setzen, ist auch eine gute Anleitung.

_____________________________________________________________________

Anleitung zündet Idee; Idee verlässt Anleitung.

In vielen guten Arbeiten steckt Anleitung und Idee.
In vielen guten Arbeiten steckt nur Idee.

Nur auf Idee zu setzen, ist auch eine gute Anleitung.

_____________________________________________________________________

Anleitung ermöglicht Zufall; Zufall verlässt Anleitung.

In vielen guten Arbeiten steckt Anleitung und Zufall.
In vielen guten Arbeiten steckt nur Zufall.

Nur auf Zufall zu setzen, ist auch eine gute Anleitung.




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Jörn Budesheim
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Do 13. Jun 2024, 07:51

Mir ist nicht klar, wofür oder wogegen du damit argumentieren willst? Bzw.: Was willst du zeigen? Da jeder Absatz mit dem Ausdruck "Anleitung" beginnt und endet: willst du vielleicht sagen, dass beim Komponieren (Kunstmachen) ohnehin immer alles einer Anleitung folgt? Und die Begriffe "Zufall", "Idee" und "Spontanität" dienen dir als vermeintliche "Gegenbegriffe" zu Anleitung, aus der man aber dennoch nicht herauskommt?




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Jörn Budesheim
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Do 13. Jun 2024, 08:18

Christoph Menke schreibt in "Die Kraft der Kunst": "Nach Sokrates ist Dichten »göttlicher Wahnsinn und Besessenheit« und damit »jedenfalls [...] kein Wissen, kein Können, das über sich selbst und seine Wahrheit Rechenschaft zu geben vermöchte«. Das Dichten, und generell das, was wir »Kunst« nennen, ist für Sokrates keine Kunst: nicht die selbstbewußte, kontrollierte Ausübung eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens. Dichten geschieht vielmehr in Besessenheit und aus Begeisterung. Daher ist auch der Dichter [...] kein Könner; nicht jemand, der durch seine Vermögen etwas gelingen lassen oder ermöglichen kann."

Später zitiert Menke mit vergleichbarer Ausrichtung, aber natürlich auch mit Unterschieden Nietzsche: "Kunst ist das Können des Nichtkönnens".

Bei Sokrates sind die Künstler von einer göttlichen Kraft beseelt, die Dichter sind nur Sprachrohre der Götter. Nietzsche dagegen versteht die Kraft, die den Dichter ergreift, als seine eigene Kraft. Die Kraft, die den Dichter ergreift, kommt nicht von außen, durch göttliche Begeisterung, sondern aus ihm selbst, durch ästhetische Belebung und "Rausch".

Mit Nichtkönnen ist hier nach meinem Verständnis nicht die Abwesenheit von "handwerklichen Vermögen" gemeint, also Dilettantismus oder dergleichen. In vielen Fällen dürfte das Können des Nichtkönnens solche Vermögen voraussetzen, aber es bleibt nicht dabei stehen. Kommt dieses besondere Vermögen von Göttern oder aus einem Inneren? Ich würde hier etwas Drittes, naheliegenderes vorschlagen: Die Kunst selbst.

"Nach Schellings abgründigen Spekulationen hätten wir mit einer Quelle der Geltung zu rechnen, die ohne Taten und Werke von Menschen zwar nicht sprudeln würde, aber dies auch nur dann vermag, wo Menschen in ihren Werken etwas hervortreten lassen, was nicht ihr Werk ist." (Hogrebe) Ich beanspruche hier keine korrekte Auslegung von Schelling und Hogrebe. Aber ich finde diese Metapher sehr sprechend. Die Quelle sprudelt zwar nicht ohne uns, aber es tritt dabei gegebenenfalls etwas zutage, was nicht unser Werk, sondern ein Ding eigener Ordnung, eigenen Rechts ist. Das ist der Grund, warum wir Kunst in der Regel Autonomie zusprechen.




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Quk
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Do 13. Jun 2024, 15:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2024, 07:51
Und die Begriffe "Zufall", "Idee" und "Spontanität" dienen dir als vermeintliche "Gegenbegriffe" zu Anleitung, aus der man aber dennoch nicht herauskommt?
Ja.




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Jörn Budesheim
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Do 13. Jun 2024, 17:51

Nehmen wir ein Extrembeispiel für eine Anleitung: Folge keiner Anleitung! Jetzt könnte man natürlich darüber streiten, ob es sich dabei überhaupt um eine Anleitung handelt. Meines Erachtens hätte man aber dann den Kern der Sache verpasst. Denn es ging ja um etwas anderes, soweit ich sehe: nämlich um die Frage, ob es eine Anleitung, einen Algorithmus, eine Formel oder was auch immer des Gelingens gibt. Und nicht nur in dem Sinne, dass jemand eine solche Methode vorschlägt, sondern in dem Sinne, dass sie wirklich das Gelingen garantiert.

Sei spontan, nutze den Zufall, folge deinen Ideen oder Ähnliches, das mag man als Anleitung lesen, wenn man unbedingt will, darüber müsste man eigens streiten, aber diese Anweisungen garantieren nicht, dass ein Kunstwerk gelingt.




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Quk
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Do 13. Jun 2024, 18:53

Ganz genau.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 12. Jun 2024, 18:37
Wenn es eine Methode gäbe, gute Kunst zu produzieren, gäbe es keine gute Kunst.
Und genau deshalb würde ich den zitierten Satz präzisieren:

"Wenn es ein Rezept oder Programm gäbe, gute Kunst zu produzieren, gäbe es keine gute Kunst."

Unter Rezept oder Programm verstehe ich eine besonders exakte Anleitung, oder besser: Befehlsliste, die auch eine Maschine ausführen könnte. Ein Mensch, der diese Befehlsliste ausführt, handelt auch wie eine Maschine.

In der Schauspielkunst gibt es ja bekanntlich das sogenannte method acting. Das halte ich für große Kunst.




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Do 13. Jun 2024, 19:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2024, 08:18
Mit Nichtkönnen ist hier nach meinem Verständnis nicht die Abwesenheit von "handwerklichen Vermögen" gemeint, also Dilettantismus oder dergleichen. In vielen Fällen dürfte das Können des Nichtkönnens solche Vermögen voraussetzen, aber es bleibt nicht dabei stehen. Kommt dieses besondere Vermögen von Göttern oder aus einem Inneren? Ich würde hier etwas Drittes, naheliegenderes vorschlagen: Die Kunst selbst.
Die Kunst selbst, ohne Mensch? Wo im Kunstschaffen ist dann der Mensch?




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Jörn Budesheim
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Do 13. Jun 2024, 19:56

Kunst ohne Menschen gibt es doch nicht, oder? Ein Stück Papier mit Farbe drauf, sei es nun die Notation eines Gedichts, die Notation eines Musikstücks oder der materielle Teil einer Zeichnung ist für sich genommen kein Kunstwerk. Es braucht noch einen Betrachter, durch den es die Notation aufführen kann.




Wolfgang Endemann
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Do 13. Jun 2024, 23:23

@ Timberlake
"muss man in der Musik für einen kreativen und innovative Prozeß tatsächlich handwerklich bewandert sein ?" - nein, natürlich nicht. Aber es erweitert die künstlerischen Möglichkeiten enorm.
Ob die Beatles bessere Musik gemacht hätten, wenn sie Musik nicht nur intuitiv verstanden hätten, wer kann das wissen? Sicher ist, daß explizites Wissen keine Garantie für bessere Musik ist.




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Do 13. Jun 2024, 23:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2024, 08:18


Später zitiert Menke mit vergleichbarer Ausrichtung, aber natürlich auch mit Unterschieden Nietzsche: "Kunst ist das Können des Nichtkönnens".
Ohne daß ich dieser aphoristischen Überspitzung zustimme, zitiere ich einmal (aus der Erinnerung) Samuel Beckett: "ich kann nicht schreiben, ich muß schreiben". Dieser Satz variiert und widerspricht dem Aphorismus Wittgensteins: worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen.
Hier prallen die unterschiedlichen Konsequenzen/Reaktionsweisen aufeinander, die sich aus dem "Unbeschreiblichen" ergeben. Ich denke, alle stellen eine Nichtexplizierbarkeit des Komplexen fest, der eine zieht die Konsequenz, auf das explizte Sprechen darüber zu verzichten, der andere sagt: und dennoch, tun wir es. Da sind wir mitten im Blogthema, schreiben wir über die unbeschreibliche Schönheit der Musik.

Wenn wir die Situation reflektieren, ist das vielleicht gar nicht so mysteriös. Vielleicht lernen wir, wenn wir das Komplexe diskursiv zu erfassen suchen, daß es seine Fremdheit verliert; es ist nicht wirklich rational zu verdinglichen, es ist anders, und doch können wir ihm nahe kommen, denn wir haben zwar Maß an der Natur genommen, aber wir sind es, die es hervorbringen.
Ich weiß, das klingt ein bißchen abgehoben.




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Quk
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Fr 14. Jun 2024, 05:04

Wolfgang, die Kunst, insbesondere die Musik, kann meiner Auffassung nach verschiedenartige Erkenntnisse und Gefühle erzeugen oder aufrühren -- also rationale und emotionale Sachen. Eine dieser Sachen nenne ich die Verstehfreude. Das besondere an ihr: Sie integriert Ratio und Emotion (die Freude darüber, etwas verstanden oder entdeckt zu haben). Andere Sachen sind nur rational oder nur emotional*. -- Ist für Dich beim Musikhören die Verstehfreude der größte Genuss? Das rationale ist für mich im Kunstschaffen nur bei der Analyse-Arbeit wichtig. Beim absichtlichen Kunst-Genießen kommen mir zwar manchmal auch analytische Gedanken auf, die dann im selben Augenblick meine Emotionen erkalten. Aber wenn ich in die Kunst -- vor allem in die Musik -- passiv eintauche, ist das weniger ein rationaler als vielmehr ein emotionaler Tauchgang. Gelegentliche Verstehfreuden rücken da in den Hintergrund. Ist es bei Dir umgekehrt?

* Ich weiß, für Jörn sind auch Emotionen rational. Hier spreche ich aber nur von der emotionalen Qualität an sich, ohne Blick auf deren Ziel oder Quelle, also ungeachtet ihres möglicherweise rationalen Zusammenhangs. Umgekehrt kann ja auch die Ratio emotionale Quellen oder Ziele haben. Hier meine ich jetzt nur die Ratio per se und die Emotion per se, beziehungsweise das Gefühl an sich.




Wolfgang Endemann
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Fr 14. Jun 2024, 11:18

"Wolfgang, die Kunst, insbesondere die Musik, kann meiner Auffassung nach verschiedenartige Erkenntnisse und Gefühle erzeugen oder aufrühren -- also rationale und emotionale Sachen."
Vollkommen d'accord. Ich habe gehofft, mit meinen Beiträgen zur Musik das ein bißchen verständlicher gemacht zu haben. Musik ist DIE Sprache des Gefühls, und in dieser Sprache kann man etwas "richtig" = wahr und "gut" = schön sagen, emotionale Wahrheit/Wahrhaftigkeit und rationale Verstehbarkeit. Das Rationale allein wird der (musikalischen) Kunst nicht gerecht, aber wer nicht mindestens intuitiv ihre Wahrheit versteht, versteht auch nichts von ihr. Ich habe ziemlich am Anfang dieses Threads schon einmal auf den "Leiermann", das Schlußlied aus der Winterreise, hingewiesen, an dem die emotionale und rationale Schönheit sich selbst musikalisch ungebildeten in der Regel unmittelbar erschließt. Oder literarisch: "der Wald steht schwarz und schweiget". Ich darf noch einmal meinen Eingangstext zitieren:
"Manche meinen, daß Musik nicht rational ist, folglich nur ein nicht weiter begründbares Geschmacksurteil abgegeben werden kann. Das ist insofern richtig, als es Musik aus eben diesem Grund gibt, daß man nicht gut genug durch die natürliche Sprache oder andere Ausdrucksformen ersetzen kann, was Musik tut. Es ist jedoch auch falsch, weil die analytisch-rationale Sprache Aspekte explizit hervorheben kann (was der Musik nicht möglich ist) und damit Einblicke in das opake Kunstgebilde ermöglicht, die den Genuß der Musik auch da noch steigern, wo man meint, sie intuitiv vollkommen verstanden zu haben. Die rationale Analyse ersetzt nicht das Kunsterlebnis, aber sie tötet es nicht und kann es bereichern." - dem hast Du ja sofort zugestimmt.
Gerne greife ich Deinen Begriff der "Verstehfreude" auf. Er bezeichnet einen wesentlichen Aspekt in der Schönheit, die eben mehr ist als bloßes subjektives Gefallen. Ich kann, in rationaler Skelettierung des Kunstwerks, die Stimmigkeit des Komplexen nachvollziehen, die Ordnung dessen, was ich im intuitiven Zugang fühle. Und Erkenntnis, die frei ist von Überlebensnotwendigkeit, ist beglückend. Der andere Pfeiler des Musikgenusses ist das empathische, intuitive Verstehen der musikalischen Semantik. Emotion und Ratio. Der gefahrlose Gefühlsrausch und das interesselose Verstehen.
"Ist es bei Dir umgekehrt?" - Nein, allenfalls trenne ich weniger. Ich kann keine Musik ohne die unmittelbare Registrierung ihrer rationalen Qualitäten hören, daher reagiere ich allergisch auf Kitsch, er tut mir unmittelbar weh. Aber die Emotionalität steht doch immer im Vordergrund, ich beurteile Musik immer primär emotional. Nur, wenn mir etwas extrem gefällt, wundere ich mich (auch extrem) darüber und habe das große Bedürfnis, zu verstehen, warum es mir gefällt. Das langsame rationale Verständnis schmälert nicht das Schönheitsempfinden, sondern im Gegenteil. Es legt noch eine Schippe drauf.
"Ich weiß, für Jörn sind auch Emotionen rational." - Das Wesentliche an der "kunst"-lichen Emotionalität ist, daß sie von der unmittelbaren Funktionalität gelöst ist, wir erleben die Emotionen, ohne mit ihren Konsequenzen oder bedrohlichen Ursachen konfrontiert zu sein, freilich sind auch die positiven Gefühle im Kunstgenuß nicht so real wie im echten Leben, aber die Fantasie kann sie unbedenklich steigern, in den virtuellen Rausch, begrenzt von der Aufführungsdauer, der Lekturedauer, der Betrachtungsdauer eines Bildes; allerdings durchaus mit einer Nachwirkung, die Lieder, Sprache, Bilder klingen eine Weile nach, bis die Realität sich wieder in den Vordergrund geschoben hat. Mehr noch, sie graben sich in das gesamte Denken und Fühlen ein. Daher sagt man nicht ganz zu unrecht, daß Kunst die Menschen zu besseren macht.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Jun 2024, 15:54

Quk hat geschrieben :
Fr 14. Jun 2024, 05:04
Beim absichtlichen Kunst-Genießen kommen mir zwar manchmal auch analytische Gedanken auf, die dann im selben Augenblick meine Emotionen erkalten.
Kürzlich habe ich mir noch einmal Ausschnitte aus Blade Runner 1 angesehen. Es gibt eine Szene in Rick Deckards Apartment, wo er und Rachael Tyrell sich am Ende küssen, unterlegt mit dem melancholischen Blues von Vangelis. Sie weiß mittlerweile, dass sie ein Replikant ist und ihre Erinnerungen fake sind. Aber sie scheint echte Gefühle für Deckard entwickelt zu haben. In dieser Szene sagt sie sinngemäß "Ich kann mich nicht erinnern", mit anderen Worten, sie muss jetzt etwas tun, was in ihrem "Programm" nicht vorgesehen ist, etwas Neues für sie. An dieser Stelle dachte ich sinngemäß so etwas wie: Das ist auch ein wunderbares Plädoyer für die Freiheit des Menschen. Das hat bei mir die emotionalen Momente keineswegs ausgeschaltet, sondern im Gegenteil eher verstärkt.




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Sa 15. Jun 2024, 17:23

Vor vielen Jahren habe ich in der neuen Galerie in Kassel eine kleine Ausstellung des Künstlers Olav Christopher Jenssen gesehen, mit dem Titel "Love Letters for Bronté Sisters". Vergleichsweise kleinformatige Arbeiten, vielleicht 30 x 40 cm auf einfachen Sperrholzplatten. Ich kann kaum sagen, wie gut mir das gefallen hat; mit den Ausdrücken Gefühlen und Rationalität ist es schwer zu beschreiben; letztlich war ich einfach baff, vielleicht fasziniert, möglicherweise passt auch der Ausdruck "aufgeregt", ich bin hier wirklich verlegen um den richtigen Ausdruck.

Aber was, wenn ich nicht 1960, sondern 1860 geboren wäre? Ich will hier nicht auf irgendeine Form von Relativismus hinaus, nichts liegt mir ferner. Was ich sagen möchte, ist, dass so ein "Wohlgefallen" ja nicht aus dem Nichts kommt; ich musste bereits eine gewisse individuelle Sehgeschichte, eine ästhetische Lebensgeschichte hinter mir haben, um für diese Arbeiten "bereit"zu sein. Bereit ist eigentlich auch nicht das richtige Wort, denn schließlich waren die Arbeiten auch eine gewisse Überraschung. Und diese ästhetische Geschichte ist auch nicht nur meine individuelle , sondern, wenn man so sagen darf, auch eine soziale. Es braucht also einen vergleichsweise großen Hintergrund, um diese spontane Liebe wirklich erleben zu können. Ein 1860 geborener Jörn, dürfte dafür wahrscheinlich kaum Antennen gehabt haben. Wie viel Kunstgeschichte, Rationalität, Gefühl, Hedonismus und Reflexion zu diesem Hintergrund gehören, dürfte nicht einfach zu schätzen sein.




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