Der Materialismus/Physikalismus

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jun 2024, 19:26

Quk, du verstehst unter Bewusstsein wohl eher etwas bereits ziemlich Komplexes, sicher nicht so etwas wie ein Proto-Bewusstsein*. Für dich scheint es die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Handlungsfähigkeit zu umfassen. Du gehst davon aus, dass ein bewusstes Wesen Entscheidungen treffen und sich seiner Existenz bewusst sein kann. Daher erscheint es dir nicht sinnvoll, Elementarteilchen ein eigenes Bewusstsein zuzuschreiben, da diese zu einfach und nicht komplex genug sind, um als Entscheidungsträger zu agieren.

Wenn Panpsychisten annehmen, dass Elementarteilchen in irgendeiner Form bewusst sind, dann meinen sie vermutlich so etwas wie ein Proto-Bewusstsein, sicher nicht die anspruchsvollen Formen des Bewusstseins, die du dir vorstellst. Auch bei uns kommt Bewusstsein in verschiedenen Graden vor. Selbst die schwächsten Formen des Bewusstseins, etwa in einem Dämmerzustand, dürften das Bewusstsein, das man bei Elementarteilchen annehmen könnte, um ein Vielfaches übersteigen, schätze ich.

*Im Zusammenhang mit Panpsychismus könnte man sich, so wie ich informiert bin, unter Proto-Bewusstsein eine sehr grundlegende Form des Bewusstseins vorstellen. Es ist nicht vergleichbar mit dem menschlichen Bewusstsein, das komplexe Gedanken und Entscheidungen umfasst. Stattdessen wäre es eine minimale, rudimentäre Art des Erlebens oder Wahrnehmens, die bei den einfachsten Teilchen der Materie vorhanden ist. Diese Form des Bewusstseins hat keine Selbstwahrnehmung oder Handlungsfähigkeit, sondern ist eher eine grundlegende Eigenschaft ähnlich wie Masse oder Ladung.

Deswegen möchte ich noch mal auf die Lernfragen-Debatte zurückkommen. Eine einfache Lernfrage wäre gewesen: "Was ist in diesem Zusammenhang mit Bewusstsein bzw Proto-Bewusstsein eigentlich gemeint?"




Körper
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Sa 29. Jun 2024, 19:42

"Panpsychismus" ist eine der philosophischen Richtungen, die man als "das Schwenken der weissen Fahne" ansehen kann - diese Leute haben aufgegeben, und zwar nachhaltig.

Es ist innerhalb der philosophischen Phantasie einer ontologischen Erfassung von Wahrnehmung ganz einfach eine gewisse Lücke, dass man mit dem Finger schnipst und behauptet "es ist halt einfach da - juhu, jetzt muss ich es nicht mehr erklären".

Meine Empfehlung an dieser Stelle lautet: "hört auf mit ontologischer Erfassung".
Wir hatten ja schon den Begriff "Zustand", den ich diesbzgl. als "massiv schädlich" eingestuft habe - aber wie es sich bei "Zustand" hier im Forum gezeigt hat, kommen die Leute reihenweise an ihre Grenzen.
Das packen sie nicht und der Grund dafür ist, dass sie die ontologische Erfassung anstreben.




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Quk
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So 30. Jun 2024, 13:15

Körper hat geschrieben :
Sa 29. Jun 2024, 19:42
"Panpsychismus" ist eine der philosophischen Richtungen, die man als "das Schwenken der weissen Fahne" ansehen kann - diese Leute haben aufgegeben, und zwar nachhaltig.
Möglich. Aber woraus schöpfst Du die Gewissheit, dass ausgerechnet Deine Theorie keine weiße Fahne schwenkt?




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Quk
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So 30. Jun 2024, 14:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Jun 2024, 19:26
Quk, du verstehst unter Bewusstsein wohl eher etwas bereits ziemlich Komplexes, sicher nicht so etwas wie ein Proto-Bewusstsein*. Für dich scheint es die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Handlungsfähigkeit zu umfassen. Du gehst davon aus, dass ein bewusstes Wesen Entscheidungen treffen und sich seiner Existenz bewusst sein kann. Daher erscheint es dir nicht sinnvoll, Elementarteilchen ein eigenes Bewusstsein zuzuschreiben, da diese zu einfach und nicht komplex genug sind, um als Entscheidungsträger zu agieren.
Dazu habe ich nun einen neuen Faden aufgemacht:

https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... =17&t=1528




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Consul
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So 30. Jun 2024, 17:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Jun 2024, 18:17
Inwiefern ist das eine Antwort auf meine Frage?
Der Verweis auf das panpsychistische Kombinationsproblem ist eine Erwiderung auf diesen Teil: "…warum sollten dann viele bewusste Teile das nicht können?"
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Jun 2024, 18:17
Wie kann ein einheitliches "Makrobewusstsein" (z.B. eines Menschen) aus vielen verschiedenen "Nichtbewusstseinen" von Elementarteilchen entstehen oder gebildet werden?
Voraussetzung ist die Entstehung zentraler Nervensysteme (Gehirne), deren Nervenzellen ein besonders hohes Maß an struktureller und funktionaler Konnektivität aufweisen, das die für die Einheit des Bewusstseins erforderliche Integration von Neuroinformation ermöglicht. Für Erklärungsansätze kann ich als Nichtfachmann auf diesem Gebiet nur auf die einschlägige Fachliteratur verweisen, z.B.:

* Axel Cleeremans & Chris Frith (Eds.). The Unity of Consciousness: Binding, Integration, and Dissociation



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Jörn Budesheim
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So 30. Jun 2024, 18:28

Wenn "funktionale Konnektivität" aus nicht-bewussten Elementen Bewusstsein schaffen kann, warum soll das Gleiche bei bewussten Elementen nicht möglich sein?

Es gibt einen neuen Faden zum Thema Panpsychismus und dort ist am Anfang ein Video verlinkt und das Problem, was du ansprichst wird dort kurz angerissen, allerdings nicht vertieft.

Allerdings zieht meine Frage auf etwas anderes, sie zielt darauf, welchen Vorteil der Materialismus bei dem Problem, das du benennst, zu bieten hat, deiner Ansicht nach.




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Quk
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So 30. Jun 2024, 18:53

Das Bewusstsein, was sich aus einer Teilchen-Summe ergibt, wiederum in jedem Einzelteilchen verorten zu wollen, klingt ein wenig nach mereologischem Fehlschluss (MF). -- Ich habe aber nichts dagegen, diesen Vorwurf des MF abzuweisen.

Konsequenterweise müsste man den Vorwurf, dass das Geistige im Gehirn zu verorten, ein MF sei, ebenfalls abweisen.




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Quk
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Mi 3. Jul 2024, 21:51

Wir haben einen Punkt noch gar nicht beleuchtet, soweit ich zurückblicke. Und zwar die Definition des Hokuspokus.

Materialisten sträuben sich gegen den Hokuspokus, richtig?

Auch die Nichtmaterialisten hier in der Diskussion halten nichts vom Hokuspokus, korrekt?

Dann sollten wir doch mal unsere Definitionen des Hokuspokus vorstellen.

Worin sind wir uns einig?

Gravitation ist kein Hokuspokus.
Quantenphysik ist kein Hokuspokus.
Fortpflanzung ist kein Hokuspokus.
Sprachverständigung ist kein Hokuspokus.

Warum sind diese Sachen kein Hokuspokus?

Jetzt wird es schwierig.

Ich versuche es mal von der anderen Seite: Esoterik halte ich für Hokuspokus. Außerdem halte ich sie für eine Lüge. Vielleicht können wir hier ansetzen.

Gravitationstheorien sind falsifizierbare, vorläufige, aber brauchbare Theorien, gewonnen durch wissenschaftliche Methoden. Esoterik hingegen ist geheim, und ihre Vorhersagen sind entweder so vage, dass nichts falsches herauskommen kann, oder sie sind mal weniger vage, enden dann aber genau so oft falsch wie Kopf-oder-Zahl-Münzwürfe.

Also ...

Materialisten behaupten doch, dass der Geist vom Körper abhänge und dass eines Tages alle geistigen Phänomene sich physikalisch, wissenschaftlich erklären ließen. Mit anderen Worten, der Geist sei kein Hokuspokus.

Dass der Geist kein Hokuspokus sei, dieser Ansicht bin ich auch. Ich vermute, dass der Geist nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert, und zwar nicht nach erfundenen Gesetzen aus Esoterikbüchern, sondern nach anderen, bisher unbekannten Gesetzen, die vielleicht irgendwann wissenschaftlich erforschbar sein werden. Sie könnten sich auch ändern. Wesentlich ist, dass die Gesetze nicht erfunden werden -- das wäre Hokuspokus --, sondern dass man sich ihnen mit offenen, falsifizierbaren Thesen nähert.

Ich lehne den Hokuspokus also ab. Mit dieser Haltung bin ich doch eigentlich ein Materialist, oder?

Eine rationale, offene, nichtesoterische Erklärung des Geistes muss ja nicht notwendig mit traditionellen Einheiten wie Volt oder Kalorie hantieren; es könnte sein, dass man neue Größen entdeckt -- und benennen muss, wie etwa Kiloendemann und Nanotimberlake. Die Frage ist dann nur noch: Zu welchem Fach gehöre die neue Einheit Nanotimberlake? Zur Physik? Zur Neurobiologie? Zu dem neuen Fach "Geisteslehre", die im Jahr 2400 impliziert wird? Das sind reine Schulfachverwaltungsfragen. Die Materialismus-Frage kann kaum davon abhängen, ob die neue Messung "42 Nanotimberlake" eher ins Fach Physik oder eher in ein neues wissenschaftliches Fach kommt. Hauptsache ist doch, dass die Angelegenheit kein Hokuspokus ist. Also was genau ist Hokuspokus?




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Consul
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Do 4. Jul 2024, 04:48

Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Ich lehne den Hokuspokus also ab. Mit dieser Haltung bin ich doch eigentlich ein Materialist, oder?
Zumindest ein Naturalist (Antisupernaturalist), würde ich sagen. (Wenn du ein Theist bist, dann bist du allerdings ein Supernaturalist.)



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Jörn Budesheim
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Do 4. Jul 2024, 07:26

Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Ich vermute, dass der Geist nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert, und zwar [nach] bisher unbekannten Gesetzen, die vielleicht irgendwann wissenschaftlich erforschbar sein werden.
Der Geist wird doch schon seit langem wissenschaftlich erforscht, zum Beispiel von den Geisteswissenschaften, der Philosophie und ggf. der Psychologie. Unser Geist strebt nach Selbstbestimmung und damit Freiheit, das heißt, die Gesetze nach denen er "funktioniert" bestimmt der Geist oftmals selbst. Wir können uns selbst Ziele setzen und diese verfolgen. Der Geist ist zum Beispiel in der Musik (um ein aktuelles Beispiel aus dem Forum zu nehmen) autonom.




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Consul
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Do 4. Jul 2024, 08:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 07:26
Der Geist wird doch schon seit langem wissenschaftlich erforscht, zum Beispiel von den Geisteswissenschaften, der Philosophie und ggf. der Psychologie. Unser Geist strebt nach Selbstbestimmung und damit Freiheit, das heißt, die Gesetze nach denen er "funktioniert" bestimmt der Geist oftmals selbst. Wir können uns selbst Ziele setzen und diese verfolgen. Der Geist ist zum Beispiel in der Musik (um ein aktuelles Beispiel aus dem Forum zu nehmen) autonom.
Auch Geistesriesen wie Robert Schumann und Friedrich Nietzsche waren nicht gegen die geistige Verzwergung durch die nervliche Zerrüttung gefeit. Wenn das Gehirn den Geist aufgibt…



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Jörn Budesheim
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Do 4. Jul 2024, 08:13

Ich verstehe nicht, wofür und wie du argumentierst. Willst du sagen, nur weil das Gehirn für das Vorliegen von Geist wahrscheinlich notwendig ist, ist Gehirn schon hinreichend? Oder worum geht es? Ich hatte geltend gemacht, dass Geist bereits wissenschaftlich erforscht wird. Und dass er sich seine Gesetze auch selbst geben kann.




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Quk
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Do 4. Jul 2024, 08:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 07:26
Der Geist wird doch schon seit langem wissenschaftlich erforscht, zum Beispiel von den Geisteswissenschaften, der Philosophie und ggf. der Psychologie.
Mein science fiction Gedankenexperiment meint keine traditionellen Geisteswissenschaften, die ja bekanntlich sehr spekulativ und streitbar sind, sondern gemeint ist eine neue Art von Geistes-Forschung; eine, die den Naturwissenschaften gleicht und die sehr robuste Theorien liefert und sehr genaue, messbare Voraussagen machen kann mit einer Präzision ähnlich der in der Mechanik oder Chemie und dergleichen.

Angenommen, die bisher fehlende Brücke zwischen Körper und Geist wird eines Tages entdeckt, so, wie einst die Ellipsen der Planetenbewegungen, oder die Penicilline, oder das Plancksche Wirkungsquantum entdeckt wurden. Angenommen, diese entdeckte Brücke verwundert die Forschung so sehr, dass sie in kein bestehendes Schulfach passt. Jetzt gibt es drei Optionen:

1. Entweder man erweitert das Fach Physik um Aufgaben, die bisher untypisch für Physik waren (und untypisch für alle anderen Fächer).
2. Oder man macht ein interdisziplinäres Fach, vielleicht eins namens Geistesphysik.
3. Oder man gründet ein ganz neues Fach, vielleicht mit dem Namen Brückenkunde.

Im Sinne der Schulfachverwaltung bleibt in allen drei Optionen der Geist gewissermaßen weiterhin vom Körper getrennt, so, wie Mars und Galaxie getrennte Sachen bleiben -- sie sind beide physikalische Begriffe, man kann sie aber auch in verschiedene Subfächer stecken: Mars in die Planetenforschung, Galaxie in die Kosmologie. Es ist eine reine Verwaltungsfrage, ob diese verblüffend neuartige Brücke zwischen Geist und Körper als etwas ganz eigenes, etwas ergänzendes, oder etwas konventionell physikalisches aufzufassen ist. Es ist buchstäblich egal. Die Hauptsache ist doch, dass dieser neue Forschungsabschnitt kein Hokuspokus ist.

Meine Kernfragen lauten demnach:
1. Ist die Forderung des Materialismus der, dass der Geist nicht mit Hokuspokus erklärt wird?
2. Oder ist die Forderung des Materialismus der, dass der Geist dem Schulfach Physik zugeführt wird?

Wenn Frage 1 bejaht wird, möchte ich gerne die Definition von Hokuspokus erfahren.
Wenn Frage 2 bejaht wird, ist die Forderung lediglich bürokratischer Natur. Siehe die 3 Optionen weiter oben.

Ich vermute, Frage 1 wird bejaht werden. Also was ist Hokuspokus? Was unterscheidet Hokuspokus von dem seltsamen, unsichtbaren Magnetismus, beispielsweise.




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Jörn Budesheim
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Do 4. Jul 2024, 09:22

Consul hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 08:07
Wenn das Gehirn den Geist aufgibt ...
Hier eine stark vereinfachte Zutatenliste für die Existenz des menschlichen Geistes, wie wir ihn heute in unseren Breitgraden kennen, so wie ich ihn mir vage vorstelle und für die ich auch nicht die Hand ins Feuer lege. Der kurze Text aus der Lamäng, erhebt also bei Weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit,

Ja, es braucht - nach allem, was wir wissen - ein Gehirn, aber eingebettet in einen Körper in seiner natürlichen und sozialen Umgebung. Wichtig ist verkörpertes, symbolisches Denken im weitesten Sinne. Diese Fähigkeiten entwickeln sich im Austausch mit Unseresgleichen, der durch Symbole, Gesten, Sprache, Schrift, Musik, Tanz, Malerei und vieles mehr möglich ist.

Geist in diesem Sinne gibt es nicht ohne die Fähigkeit, sich weitgehend frei und autonom individuelle und gemeinsame Ziele zu setzen und zu erreichen. Unabdingbar ist ein Selbstbild, an dem man das eigene Denken und Handeln orientieren kann. Kein Geist ohne Fiktion. Dazu gehört vor allem auch die Tradition, d.h. die Fähigkeit, Geist auf unerschöpflich vielfältige Weise weiterzugeben, durchzuspielen und weiterzuentwickeln.

Dies alles gibt es nur mit objektiven moralischen Normen, die zumindest in dem Sinne objektiv sind, dass ihre Geltung nicht nur im Belieben des Einzelnen steht.




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Quk
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Do 4. Jul 2024, 10:14

Consul hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 04:48
Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Ich lehne den Hokuspokus also ab. Mit dieser Haltung bin ich doch eigentlich ein Materialist, oder?
Zumindest ein Naturalist (Antisupernaturalist), würde ich sagen. (Wenn du ein Theist bist, dann bist du allerdings ein Supernaturalist.)
(Ich bin kein Theist. Ich bin atheistischer Agnostiker.)

Kommen wir doch mal zur Hokuspokus-Frage. Ehrliche Frage: Consul, worin unterscheidet sich Deine Theorie vom Hokuspokus? Nur zu behaupten, X sei Hokuspokus, ist ohne X-Definition nichtssagend, denke ich.




Körper
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Do 4. Jul 2024, 13:19

Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Materialisten behaupten doch, dass der Geist vom Körper abhänge und dass eines Tages alle geistigen Phänomene sich physikalisch, wissenschaftlich erklären ließen. Mit anderen Worten, der Geist sei kein Hokuspokus.
Ein Materialist beansprucht, eine Aussage bzgl. "was für Existenzarten/-formen/-grundlagen gibt es?" machen zu können:
Es soll nur Materielles geben.

1. beansprucht er eine Aussage machen zu können,
2. macht er eine konkrete Aussage

Da ich Punkt 1 nicht beanspruche und folglich nichts in Bezug auf Punkt 2 vorlege, bin ich kein Materialist.

Die von dir angesprochene Problematik "wie funktioniert der Mensch?", insbesondere in Bezug auf Körper und Wahrnehmung, stellt für diese beiden Punkte eigentlich nur einen "kleinen" Anwendungsfall dar.
D.h. die Position des Materialisten ist viel umfangreicher ausgelegt, und zwar derart umfangreich, dass mir unklar ist, mit welchem Blickwinkel (-> Überblick) das gerechtfertigt werden könnte.

Legt man bei "Materialist" den Fokus auf den von dir angesprochenen "kleinen" Anwendungsfall, dann könnte ein Materialist auf Basis seiner Haltung zu Punkt 1 und 2 folgende Positionen einnehmen:
  • Geist ist materiell existierend.
    D.h. der Materialist akzeptiert die philosophische Vorstellung, dass "Geist" ontologisch zu erfassen ist und er will dass dies in materiellen Einheiten geschieht.
  • Geist existiert nicht, sondern der Mensch funktioniert anders
    D.h. der Materialist versucht "Geist" nicht ontologisch zu erfassen.
Da ich die zweite Variante unterstütze, habe ich in diesem Fall zwar eine Schnittmenge mit derartigen Materialisten, bin selbst aber kein Materialist.

Mein Eindruck ist, dass die Materialisten hier im Forum zu Variante 1 tendieren und dabei der Materie entweder Existenzzutaten zuschreiben oder Phänomen-Existenz-Erschaffungspotential zugestehen wollen.
Diese Existenz-Umstände, die wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen, sind vermutlich das, was du als "Hokuspokus" einordnen möchtest.
Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Dass der Geist kein Hokuspokus sei, dieser Ansicht bin ich auch.
Hier ist halt die Frage, was du mit "Geist" ausdrücken möchtest:
eine Existenz oder keine Existenz?

Bei "eine Existenz" bist du sehr schnell im Einzugsbereich von Hokuspokus, egal für wie vernünftig du das "für Existenz"-Halten hältst.
Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Ich lehne den Hokuspokus also ab. Mit dieser Haltung bin ich doch eigentlich ein Materialist, oder?
Das reicht nicht aus.
Ich lehne Hokuspokus auch ab, erfülle aber nicht die beiden Punkte für einen Materialisten, und nur diese sind entscheidend.
Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Eine rationale, offene, nichtesoterische Erklärung des Geistes muss ja nicht notwendig mit traditionellen Einheiten wie Volt oder Kalorie hantieren; es könnte sein, dass man neue Größen entdeckt
Auch hier entscheidest du dich eher für die Variante "eine Existenz" und suggerierst ihr zukünftiges Beschreiben-Können.
Quk hat geschrieben :
Mi 3. Jul 2024, 21:51
Also was genau ist Hokuspokus?
z.B. „(starke) Emergenz“ :-)




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Quk
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Do 4. Jul 2024, 14:37

Genosse Körper, für Dein Vokabular habe ich leider kein Sprachgefühl. Was Du unter "Existenz" und "Nichtexistenz" verstehst, kann ich nicht begreifen.




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Fr 5. Jul 2024, 17:18

Quk hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 14:37
Genosse Körper, für Dein Vokabular habe ich leider kein Sprachgefühl. Was Du unter "Existenz" und "Nichtexistenz" verstehst, kann ich nicht begreifen.
Meister Quk - nicht gleich aufgeben, so etwas kann man ja erklären.

Da unser Nervensystem auf dem Prinzip von "Wechselwirkung" arbeitet, ist es nicht verkehrt, dies beim Begriff "Existenz" ins Zentrum zu ziehen.
Ich würde sagen (mein Weltbild), "Existenz" ist die Basis von Wechselwirkung, sprich: "Existenz wechselwirkt".

Da unser Nervensystem auf dem Prinzip "Wechselwirkung" arbeitet, kommen wir letztlich nie an Existenz heran, sondern gesichert sind immer nur die Wechselwirkungen.
Das ist dann auch schon die Grundlage, weshalb ich keine Festlegung in Bezug auf "welche Arten von Existenz gibt es?" machen kann.
Da solltest du mir zustimmen können, dass dies eine vernünftige Schlussfolgerung ist und ich somit kein Materialist/Physikalist sein kann.

Bei deinem Begriff "Hokuspokus" geht es doch letztlich darum, dass "etwas", obwohl hierbei keine Wechselwirkungsfähigkeit vorliegt (bzw. "Wechselwirkungsfähigkeit" wäre "das Vorliegen"), als Existenz und als Lösungspotential für "ontologische Rätselfragen" behauptet wird.




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Fr 5. Jul 2024, 18:09

Verstehe ich Dich richtig?

Du sagst, alle sinnlichen Signale, die ich erfahre, wurden in der Vergangenheit ausgesendet, und sind somit zum Zeitpunkt meines Empfangs nicht mehr existent.

Dem stimme ich zu. Drei Milliarden weitere Menschen werden dem sicher auch zustimmen, und Sabine Hossenfelder hat sogar ein Buch darüber geschrieben.

Verstehe ich Dich richtig?

Weil Du die Vergangenheit nie sicher kennen kannst, ignorierst Du jegliche Vermutung radikal und sagst, vergangene Sachen hätten grundsätzlich überhaupt nie existiert?

So radikal denke ich nicht. Ich kann zum Beispiel folgendes sagen: "Am 11.08.1973 um 16:42 und 3,87 Sekunden sticht eine Biene in Quks linken Fuß." Zu diesem Zeitpunkt existieren, unter anderem, ein Stachel und ein heftiger Schmerz. Nach meinem Sprachgefühl muss eine Existenz nicht notwendig in der aktuellen Gegenwart vorliegen; sie kann auch an einem Zeitpunkt innerhalb einer Geschichte vorliegen. In meiner Sprache kann ich die Vergangenheit auch in der grammatischen Gegenwartsform erzählen. Mit einem Fotoapparat kann ich sogar Existenzen im Bild einfrieren und einen Zeitstempel draufmachen. Der Bienenstich ist heute noch in meinem Gedächtnis gespeichert. Es gibt also eine große Wahrscheinlichkeit, dass diese Sachen damals existierten. Ich kann mich natürlich irren. Aber irren kann ich mich dann auch in der gegenteiligen Behauptung, nämlich wenn ich sage, es hätte nie etwas existiert.

Ja, es gibt keine Gleichzeitigkeit.

Aber es gibt Zeit, sprich: Es gibt Veränderung, sprich: Es gibt Ereignisketten, sprich: Jedes dieser Ereignisse muss einmal eine existente Sache gewesen sein. Ich kann zwar behaupten, dass die vergangenen Sachen nicht mehr existieren, aber ich kann nicht mit Sicherheit leugnen, dass es welche gab, und dass auch im Jetzt etwas existiert, welches ich zwar jetzt noch nicht erkenne, aber ein paar Nanosekunden später werde ich es erkennen können.




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Consul
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Fr 5. Jul 2024, 20:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Jul 2024, 09:22
Hier eine stark vereinfachte Zutatenliste für die Existenz des menschlichen Geistes, wie wir ihn heute in unseren Breitgraden kennen, so wie ich ihn mir vage vorstelle und für die ich auch nicht die Hand ins Feuer lege. Der kurze Text aus der Lamäng, erhebt also bei Weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit,

Ja, es braucht - nach allem, was wir wissen - ein Gehirn, aber eingebettet in einen Körper in seiner natürlichen und sozialen Umgebung. Wichtig ist verkörpertes, symbolisches Denken im weitesten Sinne. Diese Fähigkeiten entwickeln sich im Austausch mit Unseresgleichen, der durch Symbole, Gesten, Sprache, Schrift, Musik, Tanz, Malerei und vieles mehr möglich ist.
Mit "Geist" meine ich nicht den "objektiven Geist" einer Kultur, und auch nicht nur die höheren intellektuellen Fähigkeiten, sondern die Psyche allgemein. Ja, das Gehirn als Organ der Psyche ist kein selbstständiger Organismus, sondern ein abhängiger Teil eines Organismus—was aber nichts daran ändert, dass Geist und Bewusstsein ausschließlich in und von diesem Organ verwirklicht werden. Alle direkten/unmittelbaren Mechanismen der Psyche sind Teil des ZNS. Sie werden zwar von außergehirnlichen Vorgängen innerhalb oder außerhalb des Körpers beeinflusst, aber die "Fabrik" der Psyche ist nur das ZNS.



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