Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 25. Jul 2024, 07:12Okay, von wem gedacht? Also: wessen Gedanke ist das, "allgemeine oder abstrakte Gedanken" sind ja vermutlich nicht gemeint.
Ich hatte oben ein Beispiel gegeben: Ich bin der Ansicht, dass noch Bier im Kühlschrank ist. Diese Überzeugung ist wahr, wenn noch Bier im Kühlschrank ist. (Wir wollen annehmen, dass es so ist.) Nun glaube ich in dem Beispiel zwar, dass es sich so verhält (Bier im Kühlschrank), verschwende aber gerade keine Gedanken daran, außerdem hab ich auch noch nicht nachgeschaut, ob tatsächlich Bier im Kühlschrank ist. Wahr ist die Ansicht dennoch, denn das Bier ist im Kühlschrank.
Wie verhält es sich mit dem "Gedankending" in diesem Beispiel? Worauf in diesem alltäglichen Beispiel bezieht sich der Ausdruck?
PS: Mit Beginn meines Studiums, Anfang der 80er hab ich angefangen, philosophische Texte zu lesen, später hab ich Vorlesungen gehört und Seminare und Vorträge besucht, war in philosophischen Gesprächskreisen, in philosophischen Foren, wie diesem hier, sehe und höre Podcasts und YouTube-Videos zur Philosophie, aber der Ausdruck "Gedankending" ist mir nie begegnet.
"Gedankending = bloß Gedachtes, Vorgestelltes"
DUDEN: https://www.duden.de/rechtschreibung/Gedankending
"Gedankending = bloß Gedachtes, Vorgestelltes"
DWDS: https://www.dwds.de/wb/Gedankending?o=gedankending
"gedankending = nur gedachtes ding, ding in gedanken ( Campe): als ob er ... nur als gedankending existirte. Kant 5, 100 u. o., er braucht es gleich noumenon; s. auch gedankenwesen."
Grimm'sches Wörterbuch: https://www.dwds.de/wb/dwb/gedankending
"Gedankending. Kant bezeichnet vielfach die Ideen und ebenso das Ding an sich als Gedankendinge oder Gedankenwesen."
(Eisler, Rudolf. Kant-Lexikon. 1930. Nachdruck, Hildesheim: Olms, 1961. S. 175)
"Sofern etwas nur gedacht wird, heißt es Gedankending (ens rationis, ens cogitabile). Sofern etwas als außerhalb des Bewusstseins existierend oder so gedacht wird, wie es in Wirklichkeit ist, heißt es Außen- oder Einzelding (ens reale)."
(Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begr. v. Friedrich Kirchner & Carl Michaëlis. Hrsg. v. Arnim Regenbogen & Uwe Meyer. Hamburg: Meiner, 2013. S. 152)
"Gedankending, ens rationis, ratiocinantis. Ein leerer Begriff; oder Begriff ohne Gegenstand; ein bloß durch den Begriff gedachter Gegenstand; der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert."
(Mellin, G. S. A. Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. II. Band. II. Abtheil. Jena/Leipzig, 1799. S. 750)
"Gedankending, (ens rationis), ein bloßer Begriff, dem kein Objekt außer dem Verstande entspricht, der sich bloß auf eine besondere Denkart bezieht, und auf einer Abstraktion beruht; z.B. Raum. Das Gedankending ist zwar ein Unding, weil es keinen Gegenstand hat, von dem es der Begriff wäre; aber es gibt noch ein Unding im engeren Sinne des Wortes, ein absolutes Unding, von dem sich das Gedankending sehr merklich unterscheidet. Dies ist der Gegenstand eines Begriffes, der sich selbst widerspricht."
(Wenzel, Gottfried Immanuel. Neues vollständiges philosophisches Real-Lexicon. Zweyter Band: F–H. Linz, 1808. S. 192)
[Krug ist der Nachfolger Kants als Lehrstuhlinhaber an der Königsberger Universität.]"Gedankending ist alles, was gedacht wird. Ob ein solches auch wirklich sei, ist eine Frage, die sich aus der bloßen Widerspruchslosigkeit des Gedankens nicht bejahen lässt. Denn daraus folgt immer nur die Denkbarkeit oder die logische Möglichkeit des Dinges. Die Wirklichkeit desselben muss also auf andere Weise dargetan werden, sei es durch Wahrnehmung oder durch Deduktion aus theoretischen und praktischen Prinzipien. Wird etwas ein bloßes Gedankending (ens merae cogitationis) genannt, so heißt dies entweder, dass es überhaupt nicht wahrgenommen werden könne, etwas Übersinnliches sei, oder dass es gar nur erdacht, d.h. erdichtet worden, etwas Eingebildetes sei."
(Krug, Wilhelm Traugott. Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Zweiter Band: F–M. Leipzig: Brockhaus, 1827. S. 117-8)
Tja, es scheint leider nicht klar zu sein, was genau ein Gedankending ist. Es fängt mit dem Wort "Ding" an, das als deutsche Übersetzung der folgenden lateinischen Wörter gebraucht werden kann:
I. Ein Ding als ens ist ein Seiendes, eine Entität."Ding = ens, res, substantia, aliquid…"
Grimm'sches Wörterbuch: https://www.dwds.de/wb/dwb/ding#GD02497
II. Ein Ding als aliquid ist (irgend)etwas (Seiendes oder Nichtseiendes).
III. Ein Ding als res ist eine Sache im weitesten Sinn.
IV. Ein Ding als substantia ist eine Substanz, ein konkretes Einzelwesen (z.B. ein Körper, eine Seele, ein Mensch, ein Pferd, ein Stein).
Daran schließen sich die folgenden Fragen an:
1. Ist ein Gedankending einfach irgendein Denkgegenstand, irgendetwas Gedachtes (aliquid cogitatum), d.i. irgendein intentionaler Gegenstand (obiectum intentionale), gleichgültig, ob es sich dabei um etwas Seiendes, eine Entität (ens) oder etwas Nichtseiendes, eine Nonentität (non-ens) handelt?
2. Ist ein Gedankending als Denkgegenstand grundsätzlich ein inexistenter, irrealer Denkgegenstand und damit eine Nonentität (non-ens)?
Das trifft zumindest zu, wenn von einem reinen/bloßen Gedankending die Rede ist, das nur etwas Erdichtetes oder Eingebildetes ohne Sein und Wirklichkeit ist.
3. Wenn ein Gedankending eine Entität (ens) ist, ist es dann eine extramentale oder "reale" Entität (ens extra mentem, ens reale) oder eine intramentale oder "rationale" ("ideale") Entität (ens intra mentem, ens rationis), ein "Ding in Gedanken"?
3.1 Ein Gedankending als Kant'sches Noumenon ist ein denkbare Entität (ens cogitabile), aber keine wahrnehmbare Entität (ens perceptibile). Ein Noumenon ist "ein bloß durch den Begriff gedachter Gegenstand; der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert." (Mellin) Noumena sind aber weder Nonentitäten noch intramentale Entitäten.
(Deshalb ist mir nicht klar, ob man Noumena als entia cogitabilia auch treffend als entia rationis bezeichnen kann, die ja angeblich intramental existieren. Ich bin aber kein Kant-Experte.)
3.2 Bei der Verwendung von "Gedankending" ist oft der wichtige Unterschied zwischen einem Begriff, einer Vorstellung, einem Gedanken und dem begriffenen, vorgestellten, gedachten Gegenstand verwischt worden. Das wird im Folgenden deutlich:
– Die Idee oder der Begriff eines Pferdes ist also eine "intramentale", "ideale"Entität, während Pferde "extramentale", "reale" Entitäten sind."Ens (or res) can be distinguished further as either ens extra mentem, a being or thing outside of the mind, or ens rationis, a being or thing belonging exclusively to the mind prior to or apart from its external entity, literally, a “being of reason.” Ens rationis is called ens only improprie, since it has no independent esse, whereas ens extra mentem or ens realis is in the proper sense, proprie, ens. Thus the idea of a horse is an ens rationis, but the horse itself is an ens realis and can be called ens or res extra mentem, whereas a unicorn is only ens rationis."
(Muller, Richard A. Dictionary of Latin and Greek Theological Terms. 2nd ed. Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2017. p. 107)
–Die Idee oder der Begriff eines Einhorns ist auch eine "intramentale", "ideale" Entität, während Einhörner keine "extramentalen", "realen" Entitäten sind.
Viele haben nun den Fehler begangen, sowohl die Begriffe von Dingen, die keine extramentalen, "realen" Entitäten sind, als auch die betreffenden Dinge selbst als intramentale, "rationale" Entitäten zu betrachten. Damit werden Einhörner neben dem Einhornbegriff zu innergeistigen "Dingen in Gedanken".
Das ist jedoch widersinnig, denn niemand hat ein Einhorn in seinem Geist/Kopf!
Einhörner, die nicht außergeistig in der raumzeitlichen Wirklichkeit vorkommen, kommen auch nicht innergeistig in der Vorstellung vor; denn die Vorstellung von Einhörnern enthält keine Einhörner, sondern nur Einhorn-Vorstellungen, die selbst keine Einhörner sind.
Wie gesagt, bei der Rede von Gedankendingen als entia rationis ("Vernunftwesen") wird oft der wichtige Unterschied zwischen Denken und Gedachtem, Vorstellung und Vorgestelltem, Begriff und Gegenstand durcheinandergebracht oder verwischt.
Ich verwende das Wort "Gedankending" in der Bedeutung von bloßer, reiner, d.i. nichtseiender Denkgegenstand/Gegenstand des Denkens (intentionaler Gegenstand). In diesem Sinn ist ein Gedankending ein "Unding", d.i. eine Nonentität—also gar kein ens, weder ein ens reale noch ein ens rationis.
Ein Gedankending als daseinsloses Unding ist etwas bloß Ausgedachtes, Eingebildetes, Erdichtetes.
Meine oder deine Gedanken über Undinge sind jedoch wohlgemerkt selbst keine Undinge. Ein Gedankending in meinem Sinn ist weder ein (geistiger) Gedanke noch ein (geistiger) Begriff. Als Undinge existieren Gedankendinge nicht, was aber keineswegs bedeutet, dass Gedanken über "Gedankenundinge" ebenfalls nichtexistent sind.