Warum engagierst du dich dann nicht in einem ZNS-Forum?
40 shades of consciousness
- Jörn Budesheim
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Ich sehe gute Chancen, diesen Umständen mit Logik gerecht zu werden.
Hier wiederholst Du die längst aufgegebene ursprüngliche Hypothese der Hirnphysiologen um Singer und Roth, freilich paßt die wunderbar zu Deiner Auffassung. Diese Gruppe von Physiologen hatte die Idee und den Versuch unternommen, die Autonomie des Denkens als Selbstbetrug, das Denken als Epihänomen auf materialistische Kausalität zurückzuführen, hat an einfachen Beispielen (vergleichbar Deinem Tischdurchgehen-Beispiel) nachzuweisen versucht, daß wir nicht Subjekt des Denkens sind, sondern unser Bewußtsein nur materielle Vorgänge spiegelt, beantwortet.
Dabei haben sie einen ausgesprochen wichtigen Erkenntnisschritt getan, nur ihre Verallgemeinerung war falsch. Denn tatsächlich ist die Kognition ja das Organ der menschlichen Sinnproduktion. Verstehen bedeutet Denken in Übereinstimmung mit Sachverhalten zu bringen, die Denkordnungen spiegeln immer mehr oder weniger die Ordnung des Seins. Da wird leicht vergessen, daß wir auch Produzenten des Seins sind, was aber ein kurioser Fehler ist, denn wäre es nur eine Wiederspiegelung (ich verwende hier bewußt nicht das Wort Widerspiegelung), hätte Bewußtsein überhaupt keine Funktion, wäre völlig überflüssig. Wenn das Bewußtsein keine Handlungsmöglichkeiten kreieren würde, sondern nur nacherzählen würde, was ist, käme man ohne Bewußtsein genauso weit mit wesentlich geringerem Aufwand. Bewußtsein hätte sich nie evolutiv entwickelt. Vereinfacht gesagt: Tiere sind ziemlich perfekt angepaßte Inputverarbeitungsmechanismen, ab einer gewissen Komplexitätsstufe von Organismus und lebensrelevanter Umwelt reicht das aber nicht aus, es muß ein autonomes Bewußtsein entwickelt werden. An dieser Stelle emergiert in der Evolution Bewußtsein, in vollem Umfang erst beim Menschen.
Bewußtsein ist jedoch nur ein zusätzliches Steuerungselement. Unser biologisches Erbe besteht sehr viel mehr aus angeborenen Selbststeuerungsmechanismen. Der größte Teil der Kognition läuft unbewußt ab. Allerdings wächst mit dem Selbstbewußtsein und der darin realisierten Autonomieerfahrung die Notwendigkeit, alle bewußten Wahrnehmungen in das bewußte Denken zu integrieren, in dessen Sinnzusammenhang einzubauen, also ihnen einen passenden Sinn zu verpassen. Und so führt die Selbstwahrnehmung unbewußter kognitiver Prozesse zur Notwendigkeit, sie als Gemachte, nicht als Gegebene zu interpretieren, das ist in einem bestimmten Sinn natürlich falsch, wir haben sie nicht bewußt, sondern "Es", der unbewußte Mechanismus, wie oben beschrieben, hat sie gemacht. Allerdings verstehen wir uns als eine physio-psychische Einheit, so rechnen wir uns als Subjekten auch die automatische Verdauung und Atmung zu, manche Menschen wissen kaum, daß man bewußt atmen kann, sehen unseren Körper nicht als Fremdes, Fremdkörper. Hinzu kommt, daß wir tatsächlich Subjekt der Einordnung in unser persönliches bewußtes Universum sind. Folgerichtig hat die empirische Untersuchung der Hirnströme gezeigt, daß die Einordnung einfacher, leicht zu detektierender Ketten von Wahrnehmungsreizen bis zur Repräsentationsebene, bisin in das individuelle Denkuniversum unbewußt erfolgt, bevor es bewußt wird. Daraus wurde der voreilige Schluß gezogen, daß alles Denken eine bloße Sinnillusion ist.
Ich vertrete hier einen nichteliminativen Materialismus (wie er von Donald Davidson begründet und teilweise von Hilary Putnam vertreten und inzwischen auch in neue Zusammenhänge gestellt wurde), und den ich gerne als transzendierenden Materialismus bezeichne. Ich erwähne das, weil ich gegen Deinen Epiphänomenalismus gravierende Einwände habe. Letzteres ist nicht vereinbar mit einer (idealistisch-)realistischen Position, bei der der Gegensatz von Physis und Geist dialektisch aufgelöst ist, mit einem genetischen Primat des Materiellen.
Unbewusste Wahrnehmungen kommen vor, aber bewusstes Wahrnehmen = wahrnehmendes Bewusstsein.RoloTomasi hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 12:27…Das heißt für mich, dass wir - trotzdem wir uns in der theoretischen Rekonstruktion von Bewusstsein (mehr oder weniger) unterscheiden - eigentlich nur zwei gemeinsame ‚Gegner‘ haben: Erstens diejenigen, die sagen, dass Wahrnehmung (Ich sehe eine Tür) gar kein Fall von Bewusstsein ist.
Mit der sprachlichen Beschreibung der vortheoretischen, "reinen/rohen" Erfahrung sind wir bereits im Theoretischen. Das gilt insbesondere für die Phänomenologie.RoloTomasi hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 12:27Zweitens diejenigen, die behaupten, dass es die Erfahrung 'Ich sehe eine Tür' gar nicht gibt, etwa weil es gar keinen gibt, der die Tür wahrnimmt, oder weil es gar keine Tür gibt. Ich sehe aber keinen unter uns, der das behauptet. Solange wir also gemeinsam sagen, dass 'Ich sehe eine Tür' ein Ausdruck ist, der Bewusstsein beschreibt, sind aus meiner Sicht die Unterschiede in unseren Rekonstruktionen kein Problem. Denn die diversen Rekonstruktionen sind dann ja am Ende immer Rekonstruktionen einer schlichten vortheoretischen Erfahrung. Und diese Erfahrung ist: Ich sehe eine Tür. Problematisch wird es für mich immer nur dann, wenn man am Ende die Erfahrung, welche die jeweilige Theorie doch zu erklären versucht, unter dem Theoretischen ganz unkenntlich wird oder verschwindet.
Ob diese visuelle Erfahrung zutreffend als Sehen einer Türe beschrieben ist, kann infrage gestellt werden; denn sie ist womöglich eine visuelle Halluzination, die kein Sehen einer Türe ist, da es in einem solchen Fall keine gesehene Türe gibt, sondern nur den täuschenden Anschein des Sehens einer Türe.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
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Selbst diese Frage, ob es sich dabei um das Sehen einer Tür handelt, kann man in der Phänomenologie ja einklammern, denn der Gegenstand der Beschreibung soll ja die Erfahrung sein, so zumindestens verstehe ich es.
Wörtlich übersetzt ist Phänomenologie Erscheinungslehre.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 19. Okt 2024, 09:08Selbst diese Frage, ob es sich dabei um das Sehen einer Tür handelt, kann man in der Phänomenologie ja einklammern, denn der Gegenstand der Beschreibung soll ja die Erfahrung sein, so zumindestens verstehe ich es.
Was ist eine Erscheinung, ein Phänomen? Dieses Wort ist doppeldeutig, worauf Husserl ausdrücklich hinweist:
Diese Doppeldeutigkeit von "Erscheinung"/"Phänomen" findet sich auch im folgenden Zitat:"Die Äquivokation, welche es gestattet, als Erscheinung nicht nur das Erlebnis, in dem das Erscheinen des Objektes besteht (z. B. das konkrete Wahrnehmungserlebnis, in dem uns das Objekt vermeintlich selbst gegenwärtig ist), sondern auch das erscheinende Objekt zu bezeichnen, kann nicht scharf genug betont werden. Der Trug dieser Äquivokation verschwindet sofort, sowie man sich phänomenologische Rechenschaft darüber gibt, was denn vom erscheinenden Objekt im Erlebnis der Erscheinung reell vorfindlich sei. Die Dingerscheinung (das Erlebnis) ist nicht das erscheinende Ding (das uns vermeintlich 'Gegenüberstehende'); in dem Bewußtseinszusammenhang erleben wir die Erscheinungen, als in der phänomenalen Welt seiend erscheinen uns die Dinge. Die Erscheinungen selbst erscheinen nicht, sie werden erlebt."
(Husserl, Edmund. Logische Untersuchungen. Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Halle: Niemeyer, 1901. S. 328)
Es gibt folglich zwei unterschiedliche Untersuchungsgebiete der Phänomenologie und damit zwei Arten von Phänomenologie—eine "Immanenzphänomenologie" und eine "Transzendenzphänomenologie":"The discipline of phenomenology may be defined initially as the study of structures of experience, or consciousness. Literally, phenomenology is the study of “phenomena”: appearances of things, or things as they appear in our experience, or the ways we experience things, thus the meanings things have in our experience. Phenomenology studies conscious experience as experienced from the subjective or first person point of view."
——————
"Die Disziplin der Phänomenologie kann zunächst als das Studium von Erfahrungsstrukturen oder Bewusstsein definiert werden. Wörtlich ist die Phänomenologie das Studium von „Phänomenen“: Erscheinungen von Dingen oder Dinge, wie sie in unserer Erfahrung erscheinen, oder die Art und Weise, wie wir Dinge erleben, also die Bedeutungen, die Dinge in unserer Erfahrung haben. Die Phänomenologie untersucht bewusste Erfahrungen, wie sie aus der subjektiven oder Ich-Perspektive erlebt werden." [Übersetzt von Google Translate]
Phenomenology: https://plato.stanford.edu/entries/phenomenology/
1. Aus immanenzphänomenologischer Sicht sind Erscheinungen subjektive Erfahrungen (Empfindungen/Eindrücke), durch die Dinge bewusst wahrgenommen werden (oder nicht, wie bei Halluzinationen, die bloß Scheinwahrnehmungen sind). Hier bilden ausschließlich bewusstseinsimmanente Vorkommnisse die phänomenale Sphäre, welche somit in nichts weiter als der Gesamtheit der subjektiven Bewusstseinsinhalte besteht.
2. Aus transzendenzphänomenologischer Sicht sind Erscheinungen durch subjektive Erfahrungen (Empfindungen, Eindrücke) erscheinende und damit bewusst wahrgenommene Dinge. Hier bilden subjektiv erscheinende bewusstseinstranszendente Dinge oder Ereignisse die phänomenale Sphäre, welche somit in der Gesamtheit der erscheinenden, bewusst wahrgenommenen Vorkommnisse in der Außenwelt besteht.
Im Sinne von 1 ist "Ich habe/erlebe einen weiß-rechteckigen Farbflächeneindruck" eine immanenzphänomenologische Beschreibung, wohingegen "Ich sehe eine Türe" oder "Eine Türe erscheint mir visuell" eine transzendenzphänomenologische Beschreibung im Sinne von 2 ist.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Für das anästhesiologische Aus- und Einschalten des Bewusstseinszustandes genügt nachweislich eine bestimmte chemische Manipulation von Nervenvorgängen im Gehirn, sodass mit Recht angenommen werden darf, dass die direkten kausalen oder konstitutiven Mechanismen des Bewusstseins nichts weiter als ZNS-Mechanismen sind.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 10:28Folgende Zutaten sind notwendig für Rührkuchen: Mehl, Butter oder Margarine, (Zucker), Eier, Backpulver oder Natron, Milch oder Wasser. Lässt man die Eier weg, wird es kein Rührkuchen. Daraus folgt aber nicht, dass die Zutat "Ei" hinreichend für Rührkuchen ist. Es zeigt nur, dass sie für Rührkuchen notwendig ist. So verhält es sich auch mit dem Gehirn: Es ist (in welcher Hinsicht auch immer) eine notwendige Bedingung für unser Bewusstsein, aber keine hinreichende. Das Beispiel mit der Anästhesie zeigt zwar, dass das man Bewusstsein auf irgendeine Weise „ausschalten“ kann, sagt aber nichts darüber aus, ob das Gehirn allein hinreichend für das Vorliegen Bewusstsein ist.
Ja, "es kann" im Sinn von "es ist logisch möglich"; aber es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass es für gehirnlose Lebewesen oder gar Nichtlebewesen auch physiologisch/physikalisch möglich ist, den Zustand des Bewusstseins zu erlangen. Im Gegenteil, unser wissenschaftliches Wissen über den Geist-Gehirn-Zusammenhang und die einseitige Geist-Gehirn-Abhängigkeit spricht deutlich gegen diese Art von Möglichkeit.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 10:28Ein weiteres Beispiel: Zwar sind für einen Rührkuchen Eier notwendig, aber es gibt auch Kuchen ohne Eier: Mehl, Zucker, Pflanzenöl oder Margarine, Backpulver oder Natron, pflanzliche Milch, Apfelmus oder Banane, Vanilleextrakt. Zwar ist für unser Bewusstsein ein Gehirn notwendig, wenn auch nicht hinreichend, aber es kann auch Wesen ohne Gehirn geben, die bewusst sind, so wie es Kuchen ohne Eier gibt, obwohl sie für Rührkuchen notwendig sind.
Gehirne sind keine selbstständigen Organismen, sondern abhängige Organe in und von Organismen. Ein ZNS allein genügt natürlich nicht, denn es funktioniert nur als Teil eines größeren Körpersystems. Aber was (welche "Zutat") wird denn noch fürs Bewusstsein benötigt außer einem lebenden, funktionstüchtigen Gehirn in einem lebenden, funktionstüchtigen Organismus?Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 10:28Kurz gesagt: Der Fokus auf das Gehirn ist in mehreren Hinsichten logisch verfehlt. Daraus, dass das Gehirn für uns notwendig ist, folgt nicht, dass es generell notwendig ist. Und daraus, dass es für uns notwendig ist, folgt auch nicht, dass es für uns eine hinreichende Bedingung darstellt.
Unser "volkspsychologisches" Vokabular hat sich unabhängig vom neurophysiologischen Vokabular und von neurophysiologischem Wissen über den Geist-Gehirn-Zusammenhang entwickelt. Na und?! Dieser terminologische Dualismus impliziert keinen ontologischen Dualismus.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 10:28Weiterhin folgt nicht, dass zu einer Beschreibung des Bewusstseins eine Beschreibung oder auch nur Erwähnung des ZNS gehört. So wie zur Beschreibung einer Spritztour auch nicht die Beschreibung der Tankfüllung gehört.
"Psychologisch, d.h. für mich als Vorstellenden, Denkenden ist an und für sich das Vorstellen, das Denken kein Hirnakt; ich kann denken, ohne nur zu wissen, dass ich ein Hirn habe; in der Psychologie fliegen uns die Tauben gebraten ins Maul; in unser Bewusstsein und Gefühl fallen nur die Schlusssätze, aber nicht die Prämissen, nur die Resultate, aber nicht die Prozesse des Organismus; es ist daher ganz natürlich, dass ich das Denken vom Hirnakt unterscheide und für sich selbst denke. Aber daraus, dass das Denken für mich kein Hirnakt, sondern ein vom Hirn unterschiedener und unabhängiger Akt ist, folgt nicht, dass es an sich auch kein Hirnakt ist. Nein! Im Gegenteil: was für mich oder subjektiv ein rein geistiger, immaterieller, unsinnlicher Akt, ist an sich oder objektiv ein materieller, sinnlicher. Die Identität von Subjekt und Objekt, die wir so eben als das Wesen der Psychologie bezeichneten, gilt insbesondere von dem Hirn- und Denkakt. Der Hirnakt ist der höchste, der unser Selbst begründende und bedingende Akt—ein Akt, der daher nicht mehr als ein von uns unterschiedener wahrgenommen werden kann.
…
Im Hirnakte als dem höchsten Akt, sind die willkürliche, subjektive, geistige und die unwillkürliche, objektive, materielle Tätigkeit identisch, ununterscheidbar."
(Feuerbach, Ludwig. "Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist." In Sämmtliche Werke, Zweiter Band, 347-379. Leipzig: O. Wigand, 1846. S. 350)
Das Einzige, das du zeigen kannst, ist, dass gehirnunabhängiges Bewusstsein logisch möglich ist. Ein stichhaltiges, empirisch bekräftigtes Argument für dessen physiologische/physikalische Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit sehe ich nirgendwo!Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 10:28Das sind alles von vorne bis hinten klare Fehlargumente, wie man leicht zeigen kann.
(Nein, die Berichte über "Nahtoderfahrungen" liefern keinen wissenschaftlich überzeugenden Beweis.)
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
"Alle Neuronen eines Körpers bilden gemeinsam das Nervensystem des Organismus. Ganz grundsätzlich gesagt ist ein Nervensystem eine Vorrichtung zur Integration von Sensorik und Motorik. Es ermöglicht einem Organismus im Zusammenspiel mit seiner Umwelt auf das Ziel hinzuarbeiten, zu überleben, zu gedeihen und sich fortzupflanzen, indem es die Substanzen identifiziert, die das Überleben sichern oder gefährden, und die passenden Reaktionen darauf organisiert. Die Inputs treten in Form von Botschaften auf, die sensorische Rezeptoren für verschiedene Kategorien von Reizen wahrnehmen (Licht, Schall, Berührung, Geruch, Geschmack), und die Outputs in Form von motorischen Effektoren (Muskeln).
Die Grundaufgabe eines Nervensystems besteht also darin, sensorische Rezeptoren mit motorischen Effektoren zu verbinden. In der einfachsten Anordnung sind dazu Rezeptoren und Detektoren direkt miteinander verbunden; wie wir bald sehen werden, ist das bei den einfachen und diffusen Nervennetzen der Nesseltiere der Fall. Bei komplexen Tieren dagegen besteht das Nervensystem aus Milliarden Neuronen mit Billionen Verbindungen. Doch selbst hier ist der Hauptzweck des Nervensystems, seinem Besitzer beim Überleben und Gedeihen zu helfen, indem es sensorische Informationen aufnimmt und entsprechende Reaktionen generiert (oder manchmal auch unterdrückt)."
(LeDoux, Joseph. Bewusstsein: Die ersten vier Milliarden Jahre. Übers. v. Elsbeth Ranke & Sabine Reinhardus. Stuttgart: Klett-Cotta, 2021. S. 146)
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Der Grund: Der Bewusstseinszustand ist ein ZNS-Zustand—auch wenn sich das bewusste Subjekt dessen subjektiv nicht bewusst ist; denn "mentale Ereignisse enthalten keine Informationen über neurale Verkörperungen" ("mental events contain no information about neural embodiments"). [Gordon G. Globus]RoloTomasi hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 12:53Noch eine Ergänzung:
Das Nervensystem verhält sich aus meiner Sicht zum Bewusstsein wie der Zimmermann zur Tür. Ohne Zimmermann gibt es keine Tür, die ich wahrnehmen kann, und ohne Nervensystem gibt es kein Bewusstsein, mit dem ich (z.B. eine Tür) sehen kann.
Eine introspektive Neurologie kann deshalb grundsätzlich keinen Erfolg haben, weil die reale neurale Essenz (Struktur, Konstitution) des Bewusstseins gegenüber der introspektiven Perspektive und der phänomenologischen Analyse verborgen bleibt.
Es herrscht ein Begriffs- und Wissenschaftsdualismus zwischen Psychologie/Phänomenologie und Physiologie/Neurologie, der nur schwer zu überbrücken ist.RoloTomasi hat geschrieben : ↑Fr 18. Okt 2024, 12:53Aber beim Sehen der Tür – also bei einer bewussten Erfahrung – kommen weder der Zimmermann noch das Nervensystem vor. Ich kann natürlich bei der Tür und beim Bewusstsein auf deren reale Voraussetzungen (Zimmermann samt Materialien, Nervensystem) zu sprechen kommen: Etwa indem ich frage, worauf Türen oder das Bewusstsein von Türen beruhen müssen, damit es sie gibt. Aber wenn ich Bewusstsein, also z.B. die Erfahrung des Sehen einer Tür beschreiben möchte, dann ist mein Thema nicht die Voraussetzungen oder Bedingungen dieser Erfahrung, sondern die Erfahrung selbst. Zimmermann und Nervensystem gehören unzweifelhaft zu den Bedingungen der Wahrnehmung von Türen – aber die Untersuchung der Bedingungen einer Sache und die Untersuchung der Sache selbst kann man klar voneinander trennen. Bewusstseinstheorie ist nicht Physiologie oder Zimmermannskunde. Bewusstsein ist ein Gegenstand sui generis, auch wenn kein Mensch leugnet, dass das Bewusstsein (von Türen) auch handfeste Voraussetzungen hat (Nervensysteme und Zimmerleute).
Eine rein beschreibende Psychologie oder Phänomenologie mag so tun, als hätte sie es mit freischwebenden, gehirnlosen Geisten zu tun; aber sobald Psychologen oder Phänomenologen psychische Phänomene wahrhaft erklären und in ihrem realen Wesen verstehen wollen, müssen sie deren neurophysiologische Mechanismen in Betracht ziehen. Damit ist insbesondere auch die zeitgenössische kognitive Psychologie konfrontiert, die nicht umhinkommen wird, sich immer weiter zu einer kognitiven Neurowissenschaft zu entwickeln; denn die Psychologen werden Folgendes einsehen müssen:
"Die Psychologie muß physiologisch sein, in dem Sinne, daß die psychischen Zusammenhänge letzten Endes nur aus den physiologischen Gehirn- und Nervenprozessen zu erklären sind; eine reine Psychologie, eine Erklärung psychischer Vorgänge und Gebilde aus anderen oder aus allgemeinen psychischen Gesetzen und Wirksamkeiten ist unzulässig und undurchführbar. Einen lückenlosen Zusammenhang bieten nur die physiologischen Prozesse dar, sie allein können den Schlüssel zur Erklärung des Seelenlebens, innerhalb der Psychologie wenigstens, geben. Diese Form des Materialismus wird (von Wundt u.a.) als "psychophysischer Materialismus" bezeichnet, weil er das Psychische vom Physischen unterscheidet und zugleich einseitig von diesem abhängig macht."
(Eisler, Rudolf. Leib und Seele: Darstellung und Kritik der neueren Theorien des Verhältnisses zwischen physischem und psychischem Dasein. Leipzig: Barth, 1906. S. 34)
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Und da ich die logische Form der Argumente kritisiere, ist das auch genau das, was ich zeigen muss. Aus dem Anästhesiebeispiel folgt logisch schlicht nicht, was "Körper" behauptet. Es folgt weder, dass das Vorliegen eines Gehirns hinreichend für das Vorliegen von Bewusstsein ist, noch, dass das Gehirn notwendig dafür ist.
Das ist so, als würde man glauben, das Radio produziere das Radioprogramm – und diesen Irrtum "beweist", indem man den Stecker zieht.
Das Beispiel lässt sich noch weiterspinnen: Wer so denkt, könnte auch glauben, man könne den Inhalt der Radiosendung analysieren, indem man die Bausteine des Radios betrachtet. Offensichtlich ein absurder Fehlschluss. Diese Person wäre im Übrigen wahrscheinlich ziemlich erstaunt, wenn sie feststellen würde, dass dieselbe Radiosendung auch auf einem völlig anderen Gerät – zum Beispiel auf meinem Tablet – zu hören ist.
Man könnte ein menschliches Gehirn gegen exogene elektromagnetische Strahlung abschirmen und dann testen, ob sich das Bewusstsein immer noch regelmäßig allein durch die anästhesiologische Manipulation von Gehirnvorgängen aus- und einschalten lässt. Ich bin mir sicher, dass dieser Test erfolgreich verliefe.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 07:50Und da ich die logische Form der Argumente kritisiere, ist das auch genau das, was ich zeigen muss. Aus dem Anästhesiebeispiel folgt logisch schlicht nicht, was "Körper" behauptet. Es folgt weder, dass das Vorliegen eines Gehirns hinreichend für das Vorliegen von Bewusstsein ist, noch, dass das Gehirn notwendig dafür ist.
Das ist so, als würde man glauben, das Radio produziere das Radioprogramm – und diesen Irrtum beweisen wollen, indem man den Stecker zieht.
Übrigens:
Umgekehrt gilt: Wenn sich B regelmäßig durch nichts weiter als eine Manipulation von A manipulieren (verändern) lässt, dann ist dies ein starker empirischer Beleg dafür, dass A die Ursache von B ist."A commonsensical idea about causation is that causal relationships are relationships that are potentially exploitable for purposes of manipulation and control: very roughly, if C is genuinely a cause of E, then if I can manipulate C in the right way, this should be a way of manipulating or changing E. This idea is the cornerstone of manipulability theories of causation…"
———
"Ein vernünftiger Gedanke über Kausalität ist, dass kausale Beziehungen Beziehungen sind, die potenziell für Manipulations- und Kontrollzwecke ausgenutzt werden können: ganz grob gesagt, wenn C wirklich eine Ursache für E ist, dann sollte, wenn ich C auf die richtige Weise manipulieren kann, dies eine Möglichkeit sein, E zu manipulieren oder zu verändern. Diese Idee ist der Eckpfeiler der Manipulierbarkeitstheorien über Kausalität..." [Übersetzt von DeepL mit einer Änderung meinerseits]
Causation and Manipulability: https://plato.stanford.edu/entries/causation-mani/
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Immer, wenn ich das Ei weglasse, misslingt der Rührkuchen. Daraus folgt nicht, das Ei die "Ursache" für den Rührkuchen ist.
Immer wenn ich den Stecker aus dem Radio ziehe, sendet das Gerät nicht mehr. Daraus folgt nicht, dass das Gerät die "Ursache" der Sendung ist.
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Und ich bin mir bei folgendem ziemlich sicher: Was passiert, wenn man eine Person über einen längeren Zeitraum von allen äußeren Reizen abschirmt, zum Beispiel durch Isolation? Solche Experimente wurden tatsächlich durchgeführt, sind aber ethisch natürlich extrem fragwürdig. Warum setzt man Isolationsfolter ein? Die Folgen sind unter anderem Halluzinationen, Depressionen und eine gestörte Wahrnehmung der Realität. Einige verlieren das Zeitgefühl oder entwickeln Paranoia, während andere an Angstzuständen leiden. Es ist für die Person nicht egal, welche Bewusstseinszustände sie hat. Daher ist die Frage, ob Bewusstsein ja oder nein, meines Erachtens schon am Thema vorbei, denn beim Bewusstsein geht es ja auch um qualitative Unterschiede.
Eine reduktionistische, naturalistische Betrachtungsweise wischt das, was für uns entscheidend ist, einfach zur Seite. Diese grauenvollen Befunde oben sind für mich, neben vielem anderen, ein Indiz dafür, dass wir das menschliche Bewusstsein (und nur davon spreche ich im Moment) an einer ganz anderen Stelle suchen sollten. Der Ort des menschlichen Bewusstseins ist nicht das Gehirn, auch wenn dieses notwendig sein mag. Der Ort unseres Bewusstseins ist das Leben, insbesondere unser soziales Leben. Im Gehirn nach dem menschlichen Bewusstsein zu suchen, heißt meines Erachtens, an der falschen Stelle zu suchen. Wirklich suchen muss man hier: am Leib, im Geist*, in der Gesellschaft, der Kultur und der natürlichen Umwelt der Personen. Wir müssen immer dort schauen, wo es um etwas geht, wo etwas auf dem Spiel steht und wo die Dinge für uns gut oder schlecht laufen können.
*Unter Geist verstehe ich hier das, was wir auch im Faden über die Frage, was eine Person ist, besprochen haben: nämlich die Fähigkeit, ein Leben im Licht bestimmter Vorstellungen darüber zu führen, wer man ist, sein möchte und was der eigene Platz in der Welt ist.
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Genau dies ist ein Fehlschluß, wie Jörn schon argumentiert hat. Es behauptet den materialistischen Reduktionismus, und der ist widersinnig. Richtig ist, daß es nichts von der Physiologie Unabhängiges gibt, aber das Materielle determiniert nicht die psychologischen Sachverhalte, so wie die sprachliche Syntax nicht determiniert, was man sagen will.Consul hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 04:07"Die Psychologie muß physiologisch sein, in dem Sinne, daß die psychischen Zusammenhänge letzten Endes nur aus den physiologischen Gehirn- und Nervenprozessen zu erklären sind; eine reine Psychologie, eine Erklärung psychischer Vorgänge und Gebilde aus anderen oder aus allgemeinen psychischen Gesetzen und Wirksamkeiten ist unzulässig und undurchführbar. Einen lückenlosen Zusammenhang bieten nur die physiologischen Prozesse dar, sie allein können den Schlüssel zur Erklärung des Seelenlebens, innerhalb der Psychologie wenigstens, geben. Diese Form des Materialismus wird (von Wundt u.a.) als "psychophysischer Materialismus" bezeichnet, weil er das Psychische vom Physischen unterscheidet und zugleich einseitig von diesem abhängig macht."
(Eisler, Rudolf. Leib und Seele: Darstellung und Kritik der neueren Theorien des Verhältnisses zwischen physischem und psychischem Dasein. Leipzig: Barth, 1906. S. 34)
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Mit einklammern meinte ich natürlich Epoché: "Mit diesem Terminus bezeichnet Husserl einen methodischen Schritt der phänomenologischen Reflexion: E. bedeutet, dass die mit dem Alltagsbewusstsein (d.i. »natürliche Einstellung«) verbundene Annahme der fraglosen Gültigkeit dessen, was wir für die Wirklichkeit halten, zunächst außer Kraft gesetzt wird... www.spektrum.deConsul hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 02:00Wörtlich übersetzt ist Phänomenologie Erscheinungslehre.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 19. Okt 2024, 09:08Selbst diese Frage, ob es sich dabei um das Sehen einer Tür handelt, kann man in der Phänomenologie ja einklammern, denn der Gegenstand der Beschreibung soll ja die Erfahrung sein, so zumindestens verstehe ich es.
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Ich leugne das schon. Ich akzeptiere allerdings, dass für uns das Gehirn eine Voraussetzung für das Vorliegen von Bewusstseinszuständen ist, welcher Art auch immer.RoloTomasi hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 13:02Niemand hier leugnet, soweit ich sehe, dass es für Bewusstsein und Subjektivität grundsätzlich eines Gehirns/Nervensystems bedarf.
Aber ich akzeptiere nicht, dass ein Gehirn schlechthin die Voraussetzung für Bewusstseinszustände ist. Koch und Tononi setzen beispielsweise mit ihrer Integrierten Informationstheorie, soweit ich sehe, nicht das Gehirn als notwendig voraus, sondern eine spezifische Struktur, Selbstwirksamkeit und ein hohes Maß an Informationsintegration, supervereinfacht gesagt. Vielleicht gibt es sogar auf diesem Planeten bewusste Entitäten ohne Gehirn, vielleicht irgendwo in den Tiefen des Universums. Vielleicht sind auch radikalere Formen des Panpsychismus richtig, ich wage hier keine Wette. Geld setzen würde ich allerdings darauf, dass der Materialismus falsch ist. Weiß jemand, wo es das nächste philosophische Wettbüro gibt?
Wenn—ceteris paribus—auf das Weglassen des Eies jedes Mal das Misslingen des Rührkuchens folgt und auf das Hinzufügen des Eies jedes Mal das Gelingen des Rührkuchens, dann ist das ein Beweis dafür, dass das Hinzufügen des Eies einen ursächlichen Beitrag zum Gelingen des Rührkuchens leistet. (Da Eier nicht die einzige Zutat eines Rührkuchens sind, leisten natürlich auch andere Stoffe ursächliche Beiträge zum Gelingen.)Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 08:41Immer, wenn ich das Ei weglasse, misslingt der Rührkuchen. Daraus folgt nicht, das Ei die "Ursache" für den Rührkuchen ist.
Wenn sich das Gerät allein durch das Herausziehen oder Hineindrücken des Steckers regelmäßig aus- oder einschalten lässt, dann ist das ein Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 08:41Immer wenn ich den Stecker aus dem Radio ziehe, sendet das Gerät nicht mehr. Daraus folgt nicht, dass das Gerät die "Ursache" der Sendung ist.
Anyway, wenn nicht elektrochemische Vorgänge im ZNS, was produziert dann die "Bewusstseinssendung", und wo außerhalb des Gehirns befindet sich der Produzent?
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Aus der ethischen Verwerflichkeit bestimmter Menschenversuche folgt mitnichten die ethische Verwerflichkeit oder methodologische Unangemessenheit der "reduktionistische[n], naturalistische[n] Betrachtungsweise" in der Psychologie.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 09:32Und ich bin mir bei folgendem ziemlich sicher: Was passiert, wenn man eine Person über einen längeren Zeitraum von allen äußeren Reizen abschirmt, zum Beispiel durch Isolation? Solche Experimente wurden tatsächlich durchgeführt, sind aber ethisch natürlich extrem fragwürdig. Warum setzt man Isolationsfolter ein? Die Folgen sind unter anderem Halluzinationen, Depressionen und eine gestörte Wahrnehmung der Realität. Einige verlieren das Zeitgefühl oder entwickeln Paranoia, während andere an Angstzuständen leiden. Es ist für die Person nicht egal, welche Bewusstseinszustände sie hat. Daher ist die Frage, ob Bewusstsein ja oder nein, meines Erachtens schon am Thema vorbei, denn beim Bewusstsein geht es ja auch um qualitative Unterschiede.
Eine reduktionistische, naturalistische Betrachtungsweise wischt das, was für uns entscheidend ist, einfach zur Seite. Diese grauenvollen Befunde oben sind für mich, neben vielem anderen, ein Indiz dafür, dass wir das menschliche Bewusstsein (und nur davon spreche ich im Moment) an einer ganz anderen Stelle suchen sollten. Der Ort des menschlichen Bewusstseins ist nicht das Gehirn, auch wenn dieses notwendig sein mag. Der Ort unseres Bewusstseins ist das Leben, insbesondere unser soziales Leben. Im Gehirn nach dem menschlichen Bewusstsein zu suchen, heißt meines Erachtens, an der falschen Stelle zu suchen. Wirklich suchen muss man hier: am Leib, im Geist*, in der Gesellschaft, der Kultur und der natürlichen Umwelt der Personen. Wir müssen immer dort schauen, wo es um etwas geht, wo etwas auf dem Spiel steht und wo die Dinge für uns gut oder schlecht laufen können.
"Der Ort unseres Bewusstseins ist das Leben, insbesondere unser soziales Leben." – Dieser Satz ergibt keinen Sinn; denn es gibt keine intersubjektiven, sozialen oder kollektiven Bewusstseinsfelder, die räumlich zwischen Individuen vorkommen und sie umgeben, sondern nur subjektive, von individuellen Gehirnen realisierte und darin lokalisierte Bewusstseinsfelder.
Was es natürlich gibt, ist Kommunikation und Interaktion zwischen in sozialen Gruppen lebenden bewussten Individuen. Es gibt auch soziale Beziehungen emotionaler Art, doch jede Emotion ist gänzlich ein subjektiver Zustand eines Individuums.
Hier setzt du Geist mit personalem Selbstbewusstsein gleich, was man nicht tun sollte, weil Letzteres nur eine (wenngleich die höchste) Art von Geistigkeit ist.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 09:32*Unter Geist verstehe ich hier das, was wir auch im Faden über die Frage, was eine Person ist, besprochen haben: nämlich die Fähigkeit, ein Leben im Licht bestimmter Vorstellungen darüber zu führen, wer man ist, sein möchte und was der eigene Platz in der Welt ist.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Es gibt keine psychologischen Sachverhalte, die aus ontologisch "emergenten" und damit ontologisch irreduziblen psychischen Entitäten bestehen. Es gibt keine psychologische Seinsebene/-schicht sui generis, die von der "unteren" neurophysiologischen Seinsebene/-schicht zwar existenziell abhängig, aber davon numerisch verschieden ist, und trotz ihrer Seinsabhängigkeit eine gewisse relative Autonomie aufweist. Dieses emergentistische Modell des Geist-Gehirn-Verhältnisses halte ich für völlig verfehlt.Wolfgang Endemann hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 09:36Genau dies ist ein Fehlschluß, wie Jörn schon argumentiert hat. Es behauptet den materialistischen Reduktionismus, und der ist widersinnig. Richtig ist, daß es nichts von der Physiologie Unabhängiges gibt, aber das Materielle determiniert nicht die psychologischen Sachverhalte, so wie die sprachliche Syntax nicht determiniert, was man sagen will.
Ontologische Determination ist die Umkehrbeziehung von ontologischer Supervenienz: Wenn A B determiniert (oder "fixiert"), dann superveniert B auf A. Das heißt, B kann sich nur dann ändern, wenn A sich ändert; und wenn A sich nicht ändert, dann kann B sich nicht ändern.
Im Fall psychophysischer Supervenienz bedeutet das, dass es keine Veränderung auf der psychologischen Ebene geben kann, ohne dass eine Veränderung auf der neurologischen Ebene stattfindet. Wenn sich auf der neurologischen Ebene nichts ändert, dann kann sich auch auf der psychologischen Ebene nichts ändern, sodass Letztere von Ersterer determiniert ("fixiert") wird, und folglich von einer (dynamischen) Autonomie der psychologischen Ebene gegenüber der neurologischen Ebene keine Rede sein kann.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Auch wenn sie besteht, sehen kann man die Identität von Bewusstseinsvorgängen und Nervenvorgängen freilich nicht.RoloTomasi hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 13:02@Consul: Du schreibst: "Der Bewusstseinszustand ist ein ZNS-Zustand".
Niemand hier leugnet, soweit ich sehe, dass es für Bewusstsein und Subjektivität grundsätzlich eines Gehirns/Nervensystems bedarf. Aber Du gehst deutlich weiter und sprichst direkt von einer Identität von Bewusstseinszustand und ZNS-Zustand. Ich sehe das als eine metaphysische Behauptung an, für die sich - soweit ich sehe - keine Evidenzen beibringen lassen.
"Was also in der inneren Wahrnehmung als Vorstellung, Gefühl, Gedanke von bestimmtem Gehalt und bestimmter Färbung auftritt, das würde, wenn wir uns in demselben Moment zugleich als organischen Körper und in unserer physischen Structur vollkommen durchsichtig vor Augen haben könnten, als eine Coordination molarer und molecularer Bewegungen der Centraltheile in Nervenzellen und Nervenfasern entgegentreten und umgekehrt.
(Jodl, Friedrich. Lehrbuch der Psychologie. Stuttgart: J. G. Cotta, 1896. S. 57)
Dass phänomenale Ereignisse keine introspektiv zugänglichen Informationen über ihre neurologische Konstitution und Realisation beinhalten (encodieren), bedeutet umgekehrt nicht, dass neurologische Ereignisse keine extrospektiv zugänglichen Informationen über phänomenale Ereignisse beinhalten (encodieren).RoloTomasi hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 13:02Nehmen wir einfach unser Beispiel: Jemand sieht eine Tür. Deine These ist ja, das sich das bewusste Subjekt seiner neuronalen Zustände nicht bewusst ist, also keine Informationen über neurale Verkörperungen hat. Das sehe ich natürlich auch so. Aber jetzt meine Frage: Kannst Du mir vielleicht konkret zeigen, wie sich der Bewusstseinszustand (Ich sehe eine Tür) im ZNS präsentiert? Davon kann ich ja im subjektiven Erleben tatsächlich nichts finden, ich brauche darüber wissenschaftliche Informationen. Ich bräuchte von Dir also irgendeine Darstellung des Gehirns/Nervensystems, aus der erkennbar hervorgeht, dass dieser die Wahrnehmung einer Tür zeigt. Was ich wissen will ist dies: Was an einer Darstellung des Geschehens im Nervensystem deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine Darstellung der Wahrnehmung einer Tür handelt?
Ein Zitat aus einem älteren Beitrag von mir:
Eine reduktiv-materialistische Erklärung der neurotechnologischen Machbarkeit solcher Perzept-Rekonstruktionen unter Berufung auf die psychophysische Identitätshypothese ist erheblich glaubhafter als ein antireduktiv-dualistischer Erklärungsversuch.Die Neurowissenschaft des Bewusstseins hast es mit vielen theoretischen und technologischen Problemen zu tun, aber sie tappt nicht blind umher. Es gibt sehr wohl einen überzeugenden Anhalt, dass sie auf dem richtigen Weg ist:
Es ist eine empirische Tatsache, dass alle bewussten oder unbewussten Geisteszustände existenziell und funktional von Gehirnzuständen abhängen. Das Bewusstsein kann (wie jeder Anästhesist weiß) durch physische oder chemische Manipulation von Nervenvorgängen aus- oder eingeschaltet werden, und das Erleben kann auf gleiche Weise in seiner Qualität und Intensität beeinflusst und verändert werden. Das ist eine starke empirische Bestätigung der Annahme, dass Geist und Bewusstsein nichts anderes sind als bestimmte elektrochemische Zustände des ZNS. Das Bewusstsein ist eine besondere Zustandsform der Hirnmaterie, die bestimmte Arten von Lebewesen zu Subjekten von Empfindungen macht.
Hier ist ein experimentelles Beispiel, das diese Annahme untermauert: Decodierung des Gehirns: basierend auf Gehirnscans kann künstliche Intelligenz rekonstruieren, was wir sehen
Wenn visuelle Eindrücke von Subjekten nicht neurophysischer Natur wären, wie wären solche Bildrekonstruktionen dann machbar?[
Consul: https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 482#p77482
Es konkurrieren bekanntlich mehrere metaphysische Theorien über das Geist-Körper-/Leib-Seele-Verhältnis miteinander, die alle mit den empirischen Tatsachen logisch vereinbar sind, sodass es hauptsächlich um abduktive Argumente geht, d.h. um Schlussfolgerungen auf die beste Erklärung (auf der Grundlage unseres wissenschaftlichen Wissens).RoloTomasi hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 13:02Solange mir das niemand deutlich machen kann, werde ich die These: "ein Bewusstseinszustand ist ein ZNS-Zustand" einfach spielerisch so behandeln wie die These "ein Bewusstseinszustand ist ein Zustand Gottes". (Und die These: "Nervensysteme bringen Bewusstsein hervor" würde ich ebenfalls spielerisch so behandeln wie: "Gott bringt Bewusstsein hervor". Ich würde diese Ansicht aber sofort ändern, wenn mir jemand den Prozess der Entstehung von Bewusstsein aus Nervenvorgängen so evident macht, dass ich daran keinen Zweifel mehr haben kann.)
Ich bin halt Phänomenologe und brauche daher immer Evidenz, um von etwas überzeugt sein zu können. Behauptungen über irgendwelche Relationen oder Identitätsbeziehungen reichen mir nicht, da wittere ich immer sofort Metaphysik. Und die Identitätstheorie hat eben starke metaphysische Implikationen - wie überhaupt jede Theorie, die auf der Basis des cartesischen Gegensatzes von Körper (physisch) und Bewusstsein/Geist (psychisch) argumentiert.
Ich behaupte, der reduktive/äquative Materialismus liefert mit seiner Identitätshypothese die beste Erklärung für die psychophysischen Korrelationen und Dependenzen.
(Ein psychologischer Sachverhalt muss nicht mit einem einzigen neurologischen Sachverhalt identisch sein; er kann auch mit einer Summe vieler neurologischer Sachverhalte identisch sein: S_p = S_n1 + … + S_nn)
"Jeder Gedanke, jede Empfindung ist eine materielle Bewegungserscheinung, die sich in den leitenden Nervenröhren abspielt."
(Fischer, J. C. Das Bewusstsein: Materialistische Anschauungen. Leipzig: Wigand, 1874. S. 4)
"How could a nonphysical property or entity suddenly arise in the course of animal evolution? A change in a gene is a change in a complex molecule which causes a change in the biochemistry of the cell. This may lead to changes in the shape or organization of the developing embryo. But what sort of chemical process could lead to the springing into existence of something nonphysical? No enzyme can catalyze the production of a spook! Perhaps it will be said that the nonphysical comes into existence as a by-product: that whenever there is a certain complex physical structure, then, by an irreducible extraphysical law, there is also a nonphysical entity. Such laws would be quite outside normal scientific conceptions and quite inexplicable: they would be, in Herbert Feigl’s phrase, 'nomological danglers.' To say the very least, we can vastly simplify our cosmological outlook if we can defend a materialistic philosophy of mind."
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"Wie könnte eine nicht-physikalische [nicht-physische] Eigenschaft oder Entität plötzlich im Laufe der tierischen Evolution entstehen? Die Veränderung eines Gens ist eine Veränderung eines komplexen Moleküls, die eine Veränderung der Biochemie der Zelle bewirkt. Dies kann zu Veränderungen in der Form oder Organisation des sich entwickelnden Embryos führen. Aber welcher chemische Prozess könnte dazu führen, dass etwas Nicht-Physikalisches ins Leben gerufen wird? Kein Enzym kann die Produktion eines Spuks katalysieren! Vielleicht wird man sagen, dass das Nicht-Physikalische als Nebenprodukt entsteht: Wenn es eine bestimmte komplexe physikalische Struktur gibt, dann gibt es aufgrund eines irreduziblen extraphysikalischen Gesetzes auch eine nicht-physikalische Entität. Solche Gesetze würden außerhalb der normalen wissenschaftlichen Vorstellungen liegen und wären völlig unerklärlich: Sie wären, um es mit Herbert Feigls Worten zu sagen, "nomologische Anhängsel". Wir können, gelinde gesagt, unsere kosmologische Sichtweise erheblich vereinfachen, wenn wir eine materialistische Philosophie des Geistes vertreten können." [Übersetzt von DeepL mit einer Änderung meinerseits]
(Smart, J. J. C. "Materialism." Journal of Philosophy 60/22 (1963): 651-662. p. 660)
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Zwei bekannte Metaphern dafür sind:Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑So 20. Okt 2024, 09:32Der Ort des menschlichen Bewusstseins ist nicht das Gehirn, auch wenn dieses notwendig sein mag. Der Ort unseres Bewusstseins ist das Leben, insbesondere unser soziales Leben. Im Gehirn nach dem menschlichen Bewusstsein zu suchen, heißt meines Erachtens, an der falschen Stelle zu suchen. Wirklich suchen muss man hier: am Leib, im Geist*, in der Gesellschaft, der Kultur und der natürlichen Umwelt der Personen. Wir müssen immer dort schauen, wo es um etwas geht, wo etwas auf dem Spiel steht und wo die Dinge für uns gut oder schlecht laufen können.
*Unter Geist verstehe ich hier das, was wir auch im Faden über die Frage, was eine Person ist, besprochen haben: nämlich die Fähigkeit, ein Leben im Licht bestimmter Vorstellungen darüber zu führen, wer man ist, sein möchte und was der eigene Platz in der Welt ist.
Das Bewusstsein im Gehirn zu suchen, ist so, als ob man den Wert eines 10-Euro-Scheins im Papier des Scheins sucht – der Wert des Geldes liegt nicht im physischen Material, sondern entsteht durch seine Einbettung in soziale und wirtschaftliche Kontexte.
Oder es ist, als ob man den Tanz in der Muskulatur der Tänzer finden wollte. Der Tanz ist mehr als nur die Bewegung der Muskeln; er entsteht im Zusammenspiel von Körper, Raum, Kultur. Musik und dem sozialen Kontext.
Ebenso lässt sich das Bewusstsein nicht als bloße Hirnaktivität begreifen. Es entsteht, so wie ich es sehe, in einem weiteren Zusammenhang: durch das dynamische Zusammenspiel von Körper, Geist, sozialer Interaktion, Kultur und Umwelt ... Der isolierte Blick auf das einzelne Subjekt scheint mir eine Erbschaft mancher idealistischer Sichtweisen zu sein.