Das Münchhausen-Trilemma

Argumente gehören zum Kernbestand der Philosophie. Die Argumentationstheorie ist derjenige Bereich Philosophie, der sich mit der Form und dem Gebrauch von Argumenten befasst.
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Jörn Budesheim
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Mi 11. Dez 2024, 09:16

Nicht nur Kinder, auch Erwachsene können zu jeder Behauptung eine Begründung verlangen. So entstehen Begründungsketten, bei denen es vor allem am Ende spannend wird. Eine Kolumne.

https://www.spektrum.de/kolumne/warkus- ... ma/1875442

Haben wir nur die Wahl zwischen:
  • Unendlichem Regress,
  • Zirkularität (Zirkelschluss)
  • und dogmatischer Setzung?




Wolfgang Endemann
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Mi 11. Dez 2024, 10:29

Der Satz "Wir landen also bei einer Schleife, einem Zirkel: Gleiche Ursachen führen erfahrungsgemäß zu gleichen Wirkungen, weil gleiche Ursachen erfahrungsgemäß zu gleichen Wirkungen führen." von Matthias Warkus ist nicht ganz richtig, und das bemerkt er auch zum Schluß. Er gilt nur für die empirische Erkenntnis, und er ist eigentlich nur eine Konsequenz aus Kants Erkenntnis, daß wir kein Ding-an-sich erkennen können. Wir können ihr beliebig nshe kommen, aber nie absolute Erkenntnis erlangen, oder wie Popper sagte, wir können empirisch allenfalls Falschheit sicher wissen (falsifizieren), aber nie (empirische) Wahrheit verifizieren.

Das aber gilt nicht für die mathematischen Denkobjekte. An dem Beispiel 1+1=2 kommen denn Warkus auch Zweifel. Und in der Tat, was ich mathematisch oder logisch beweisen kann, gilt absolut. Nur ist es keine inhaltliche Wahrheit, keine Wahrheit über empirische Dinge, sondern eine Wahrheit des Denkens, des formalen Denkens. Das formale Denken scheidet nicht das, was ist, von dem, was nicht ist, sondern das, was denkmöglich ist, von dem, was nicht denkmöglich ist.
Trifft eine empirische/inhaltliche Aussage zu, führt das korrekte Denken auf richtige Schlüsse. Also, wenn das Gravitationsgesetz gilt, kann ich absolut sicher die von ihm beschriebenen Bewegungen vorausberechnen. Daher können wir uns auf unsere Berechnungen verlassen, weil wir noch nie auf einen Sachverhalt gestoßen sind, der dem Gravitationsgesetz widerspricht, jedenfalls in unserer Mesowelt.

Ein bißchen freilich ragt das Münchhausenproblem auch ins formale Denken. Zwar ist es nicht so, daß wir etwas nicht vollständig wissen können, aber wir können mathematisch-logisch nicht vollständig wissen, der Möglichkeitsraum des Denkens ist unabschließbar unendlich, offen. Wir können immer neue mathematische Erkenntnisse erzeugen. Mathematik ist eine kreative Wissenschaft, die absolute Wahrheit erzeugt und dabei nie zu Ende kommt. Auch da kann man immer weiter fragen.




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Quk
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Mi 11. Dez 2024, 13:57

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 10:29
... oder wie Popper sagte, wir können empirisch allenfalls Falschheit sicher wissen (falsifizieren), aber nie (empirische) Wahrheit verifizieren.
Da hast Du Popper meines Erachtens missverstanden. Weder falsches noch richtiges können wir sicher wissen. Auch eine Falsifikation kann irren.

Eine Negation ist ja nur eine sprachliche Form, mit der man indirekt auch etwas positives ausdrücken kann:

Die Tomate ist rot.
Die Tomate ist nicht blau.

Beide Sätze haben einen rein empirischen Inhalt. Der erste klingt wie eine Verifikation; der zweite wie eine Falsifikation. Der erstere Inhalt ist aber nicht weniger irrtumsanfällig als der zweite.

Ich denke, der Begriff Falsifikation dient hauptsächlich nur als Name für eine Methode. Den Namen sollte man nicht zu wörtlich nehmen. Ich vermute, Popper erfand diesen Namen, um einen Gegenpol zu setzen bezüglich des Positivismus und dessen vermeintlich sichere "Verifikationen".

Falsifizierbarkeit bedeutet einfach nur Prüfbarkeit. Es wird stets geprüft, ob eine vorläufige These bisher stimmt oder nicht stimmt. Ob die Antwort "ja" sein wird oder "nein", ändert nichts an der Methode. Die These muss nicht von Beginn an zwingend falsch sein, um "falsifizierbar" zu sein. Wenn die These von Anfang an falsch wäre, bräuchte man sie erst gar nicht aufstellen.




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Jörn Budesheim
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Mi 11. Dez 2024, 19:33

Ist nicht der allererste Gedanke, dass das Trilemma ein Art von Selbstwiderspruch darstellt, weil es schließlich selbst eine Letzt-Begründung zu sein versucht? Also eine Letzt-Begründung dafür, dass es keine Letzt-Begründung geben kann.




Wolfgang Endemann
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Mi 11. Dez 2024, 20:00

Quk hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 13:57


Da hast Du Popper meines Erachtens missverstanden.
Nein, da hast Du mE Popper mißverstanden. Der klassische Satz, der den Unterschied von Verifikation und Falsifikation erklären sollte, war der Satz "Alle Schwäne sind weiß", er sollte eine möglicherweise durchgängige empirische Erfahrung beschreiben. Aber diese Aussage ist nach Popper nicht verifizierbar, denn dazu müßte ich alle Schwäne der Welt, auch die, die in der Zukunft zur Welt kommen, kennen. Eine Kenntnis, die nie möglich ist. Falsifizieren kann man die Aussage leicht, wenn sie falsch ist, durch Aufweis eines schwarzen Schwans. Die Falsifikation stellt eine absolute Wahrheit her, wenn auch nur ex negativo, durch ein Gegenbeispiel. Daß nicht alle Schwäne weiß sind, ist empirisch zu beweisen. Aber selbst wenn wir keine schwarzen Schwäne kennen würden, die Ursprungsaussage ist nicht beweisbar, höchstens vermutbar. (Es sei denn, das Schwanfarbengen weiß wäre das einzige, das mit den allgemeinen Genen der Schwäne kompatibel ist - aber auch das ließe sich nicht empirisch feststellen, würde nur die Sicherheit der Aussage erhöhen).
Wenn Du Popper anders verstehst, muß Du mir das erläutern.

Ich bin kein Popperianer, ich wollte hier nur eine fundamental richtige Einsicht Poppers würdigen. Aber möglicherweise, wahrscheinlich hast Du sogar recht, hat Popper diese Unmöglichkeit wissenschaftlicher Allgemeinaussagen tatsächlich behauptet und damit implizit Wissenschaft auf Naturwissenschaft reduziert. Popper hat durchaus einen strengen Wahrheitsbegriff, den der Logik (und Mathematik), insofern eine Aussage nur verworfen werden darf, wenn sie der Logik widerspricht. Damit ist aber keine Gesellschafts- bzw Geisteswissenschaft möglich, und das überfrachtet auch die Naturwissenschaft. Selbstverständlich gehen wir davon aus, daß eine Theorie, die hinreichend empirisch überprüft ist, als wahr gelten darf; und wenn neue Erfahrungen eine Revision verlangen, daß dann die Theorie nicht gänzlich verworfen wird, sondern in einer umfassenderen Theorie als Spezialfall erhalten bleibt. Ganz selten ist tatsächlich eine Reorganisation der Theoriebildung erforderlich, ich hatte schon das Beispiel der RT gebracht, aber selbst da kann man die falsche frühere Theorie als eine angemessene Annäherung begreifen.

Die absolute Wahrheit der Logik/Mathematik steht für Popper nicht infrage, oder?

Dein Beispiel ist falsch gewählt: "Die Tomate ist rot (oder nichtblau)" ist überhaupt keine wissenschaftliche Aussage. Ob eine bestimmte Tomate rot ist oder nicht, dürfte kaum von wissenschaftlichem Interesse sein. Tomaten sind nicht blau, aber dessen kann man sich nicht sicher sein. Wissenschaftliche Aussagen wären: "Alle Tomaten sind rot" oder "Nicht alle Tomaten sind rot", diese beiden Aussagen kann ich machen und kann die erste falsifizieren und die zweite verifizieren. Es läuft auf das gleiche hinaus, nämlich "Es gibt Tomaten, die nicht rot sind". Diese Aussage ist absolut wahr, ist nicht falsifizierbar.

Wenn Falsifikation Prüfbarkeit bedeutet, was bedeutet dann Verifizierbarkeit? Ich denke, das richtige Verständnis ergibt sich mit der Komplementarität von Existenz- und Allaussagen. "Nicht alle" bedeutet "Es gibt mit nicht" und "Es gibt nicht" "Für alle gilt nicht".




Wolfgang Endemann
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Mi 11. Dez 2024, 20:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 19:33
Ist nicht der allererste Gedanke, dass das Trilemma ein Art von Selbstwiderspruch darstellt
Je nachdem, wie man Wahrheit faßt.
Man kann Wahrheit als inhaltliche Wahrheit verstehen, die ein Wissen der Welt charakterisiert. Dann ist die Beschreibung des Trilemmas korrekt: Eine empirische Aussage läßt sich immer weiter hinterfragen, in einem unendlichen Regress oder in einer zirkulären Schleife, oder man legt sich auf eine Definition fest, das ist eine (dogmatische) Setzung.

Wenn man Wahrheit nicht auf inhaltliche beschränkt, gilt das nicht, dann ist die Wahrheit nicht das Gesetzte, sondern das, was sich absolut zwingend daraus ergibt.
Aber es wird auch kein Naturwissenschaftler bestreiten, daß es eine mow große Sicherheit gibt, die in einer langen Tradition entwickelten Einsichten, die theoretisch formuliert wurden, für wahr zu halten. Ganz abgesehen von den Faktenwahrheiten: "gestern hat es in x geregnet."




Timberlake
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Mi 11. Dez 2024, 21:36

Übrigens ..
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 8. Dez 2024, 11:32
Timberlake hat geschrieben :
So 8. Dez 2024, 01:01


Fehlt da nicht noch was "Kreativ ist ein verstehendes Denken, das sich nicht aus vorliegendem Verstehen/Denken ergibt .. ABER! ... in solchem impliziert ist.
Nein, im Gegenteil. Ich hätte präzisieren müssen: "dh das nicht in solchem impliziert ist." Denn sonst könnte man es explizieren. Die RT ist ein gutes Beispiel. Die neuere physikalische Erkenntnis ist verbaut für das klassische Weltbild. Aus letzterem kann man nicht auf die RT schließen. Man muß es verlassen, erst dann wird sie denkbar. Das ist ein extrem kreativer Schritt.
Du hast völlig recht, diese Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist mit unserem vormodernen, klassischen Verständnis nicht zu begreifen. Es gibt keinen Weg von jenem Verständnis zur modernen Sicht, man muß einen Paradigmenwechsel vornehmen, es ist ein Bruch im Verstehen, das Neue ist nicht implizit im Alten; das, was nicht das Alte fortsetzt, nennen wir kreativ, wenn es nicht willkürlich, zufällig, sondern (erklärungs-)notwendig ist.
Und ich habe hier sehr viel einfachere Beispiele gebracht, die schon kreativ zu nennen wären.

Diese Art des Umorganisierens des ganzen Systems ist einer Maschine nicht möglich, sie kann nur explizieren, was schon in ihr steckt. Daher ist sie nicht kreativ, obwohl sie viel besser rechnen kann als Menschen. Es ist, wie Jörn sagt: die Maschine versteht nicht, daher kann sie auch nicht ihr Verständnis ändern.
… das mit dem … ABER! … fand ich nicht zuletzt deshalb zu spannend, weil es auf das Münchhausen-Trilemma hinausläuft. Kreativität als etwas zu verstehen, wo man sich am eigenen Schopf packend, weil … "in solchem impliziert" … , selbst aus dem Sumpf eines … "nicht vorliegenden Verstehen/Denken" … zieht. Etwas, was leider mit deiner Präzisierung zu nicht gemacht wurde.




Wolfgang Endemann
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Mi 11. Dez 2024, 23:16

Timberlake hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 21:36
Etwas, was leider mit deiner Präzisierung zu nicht gemacht wurde.
Aber nicht doch. Du weißt, ich bin ein Freund der Logik und ein Freund der Kunst. Das Schöne der Logik ist die Tatsache, daß ihre Wahrheit keiner Erfahrung bedarf, sondern in ihr selbst ruht. Wäre die Vernunft von etwas außerhalb ihrer selbst abhängig, wäre es keine reine Vernunft.Sie ist also nur von sich selbst abhängig, ist Selbstbegründung und Selbstzweck. Zur Autonomie sagt wiki:
<Als Autonomie (altgriechisch αὐτονομία autonomía ‚Eigengesetzlichkeit', ‚Selbstständigkeit', aus αὐτός autós ‚selbst' und νόμος nómos ‚Gesetz') bezeichnet man den Zustand der Selbstbestimmung des freien Willens, deren der Mensch als vernünftiges Wesen fähig ist.>
Das ist die Autonomie des Willens. Die Autonomie der Wahrheit/Vernunft ist die Selbstbestimmung der Wahrheit/Vernunft, deren der Mensch als vernünftiges Wesen fähig ist.
Und die Autonomie der Kunst ist die Selbstbestimmung der Kunst, deren der Mensch als vernünftiges Wesen fähig ist.

Wie die obigen Sätze besagen, gibt es keine reine Autonomie, "deren der Mensch als Vernunftwesen fähig ist" ist die Einschränkung. Das entzieht uns einen naiven Idealismus, wir sind Naturobjekte, keine reinen Vernunftwesen. Aber die Vernunft in uns läßt uns wie fragmentarisch auch immer die Welt verstehen, und sogar uns als Verstehende, und schließlich das Verstehen selbst. Das ist ein imprädikativer Sachverhalt. Das ist kein unendlicher Regress, und das ist keine willkürliche Setzung wie im Trilemma postuliert, aber es ist auch keine einfache Zirkularität, das dritte im Trilemma.

Wir sind ein bißchen Mümchhausen. Wir sind ein bißchen kreativ. Und genau das kann die Maschine nicht.




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Quk
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Do 12. Dez 2024, 01:56

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 20:00
... nicht verifizierbar, denn dazu müßte ich alle Schwäne der Welt, auch die, die in der Zukunft zur Welt kommen, kennen. Eine Kenntnis, die nie möglich ist. Falsifizieren kann man die Aussage leicht, wenn sie falsch ist, durch Aufweis eines schwarzen Schwans. Die Falsifikation stellt eine absolute Wahrheit her, wenn auch nur ex negativo, durch ein Gegenbeispiel. Daß nicht alle Schwäne weiß sind, ist empirisch zu beweisen.
In diesem Detailbeispiel, in diesem Denkansatz, stimme ich Dir zu. Eine Allaussage wie die mit den Farb-Entdeckungen ist so trivial, dass jede Entdeckung wie gesichert erscheint. Aber jede Entdeckung eröffnet ja wieder weitere Unsicherheiten: Bei den Schwänen ist das zwar unwahrscheinlich, aber theoretisch könnte die neue Farb-Entdeckung eine Lichttäuschung sein, oder eine Färbung durch Blütenstaub oder sonst irgendeine unechte Farbe. Wendet man dies auf komplexere Allaussagen an, wie etwa "E=mc^2", dann ist da eine Falsifikation eventuell nicht mehr so gewiss wie im trivialen Schwanenbeispiel. Wenn hinterm Mars eine Fluktuation entdeckt wird, die "E=mc^2" widerlegt, so ist das auch nur eine empirische Entdeckung, die falsch sein könnte; die Messinstrumente könnten fehlerhaft sein und oder ein weiterer unentdeckter Effekt könnte das wieder mit "E=mc^2" in Einklang bringen. Also: Eine Falsifikation ist auch wiederum eine Allaussage, die falsch sein kann. Die Aussage "Es gibt auch schwarze Schwäne" will sagen, dass alle schwarzen Schwäne echte rabenschwarze Farbpigmente haben. Es kann sich jedoch herausstellen, dass ein schwarzer Schwan oder sogar alle schwarzen Schwäne nicht wirklich schwarz sind. Zu derartigen empirischen Entdeckungen gibt es also nie letzte Gewissheiten, egal, ob man sie "Falsifikationen" nennt oder nicht.

Aus diesem Grund sagt Popper: "Alles Wissen ist Vermutungswissen." -- Das heißt für mich logischerweise: Auch die Falsifikation ist nur Vermutungswissen. Wäre sie gesichtertes Wissen, wäre sie ironischerweise positivistisch. Genau von solchem Positivismus wollte Popper abraten. Jede These ist nur vorläufig, auch dann, wenn sie eine vorherige These falsifiziert hat.

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 20:00
Ganz selten ist tatsächlich eine Reorganisation der Theoriebildung erforderlich, ich hatte schon das Beispiel der RT gebracht, aber selbst da kann man die falsche frühere Theorie als eine angemessene Annäherung begreifen.
So weit ich mich erinnere, steht die Spezielle Relativitätstheorie nicht im Widerspruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie. Sie sind beide im Einklang. Das ist auch nur wieder so eine Sache des "Namens". Eigentlich könnte man die Namen vertauschen; es änderte nicht den Inhalt. Oder: Kant hätte den Namen "Transzendentaler Idealismus" anders wählen können. Es sind nur Namen. Die sogenannte "Spezielle" Relativitätstheorie ist die mit der Zeitdehnung, und die andere Relativitätstheorie ist die mit der Gravitation. Sie ergänzen sich wechselseitig.

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 20:00
Die absolute Wahrheit der Logik/Mathematik steht für Popper nicht infrage, oder?
Ja.

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 20:00
Dein Beispiel ist falsch gewählt: "Die Tomate ist rot (oder nichtblau)" ist überhaupt keine wissenschaftliche Aussage. Ob eine bestimmte Tomate rot ist oder nicht, dürfte kaum von wissenschaftlichem Interesse sein.
Das diente nur als logisches Beispiel, im Sinne der Schwanenfrage. Ob diese Beispiele wahrlich von wissenschaftlichem Interesse sind, finde ich jetzt eher irrelevant.

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 20:00
Wenn Falsifikation Prüfbarkeit bedeutet, was bedeutet dann Verifizierbarkeit?
Beim Stichwort Prüfbarkeit schrieb ich "Falsifizierbarkeit", nicht "Falsifikation". In meinen Augen sind sowohl "Falsifizieren" als auch "Verifizieren" Akte der Prüfung. Die Frage müsste lauten: "Was ist prüfbar?"

Ich meine, Verifizierbarkeit oder Verifikation sind auch nur Namen für eine Denkmethode. Positivisten und Realisten denken, Menschen könnten viele empirische Sachen endgültig sicher wissen. Dieses vermeintlich sichere Wissen nennt man wohl "verifiziert". Ich, als Kritischer Rationalist, denke, dass nur wenige Sachen gewiss sind. Ich denke, dass "ich" in allen empirischen Sachen nur Qualia verifizieren kann. Qualia sind die letzte empirische Gewissheit, und dass Alles vielgestaltig ist, ist die letzte logische Gewissheit, denn die Qualia sind vielerlei.




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Quk
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Do 12. Dez 2024, 05:45

Wolfgang, ich stimme Dir auch in folgendem zu: Wenn wir die "Falsifikation" als Ausschlussverfahren sehen und die "Verifikation" als Allaussage, dann ist aus logischer Sicht der Ausschluss tatsächlich gewisser als die Allaussage. Ist ja logisch: Was man sieht, sieht man; was man über all das Ungesehene spekuliert, sieht man noch nicht.

Wahrscheinlich hast Du deswegen gefragt, was Popper von Logik hält. Ja, in dieser Hinsicht gebe ich Dir recht; rein logisch betrachtet ist das Gesehene buchstäblich etwas Gesehenes, und das Ungesehene ist Spekulation. Du als Mathematiker verstehst hier das Gesehene im Sinne eines Beweises in der Mathematik, wo dann ein Beweis zugleich der letzte Beweis ist. Mein Einwand eingangs kam aus meinem empirischen Verständnis heraus. In der empirischen Praxis ist das Gesehene, also der Detail-Ausschluss in einer All-Spekulation, nicht der letzte Beweis, dass die All-Spekulation falsch ist. Meistens ist sie, wenn sie in ihrer Allheit falsifiziert ist, jedoch nicht völlig falsch. Und damit ist die Methode der Falsifikation eher eine stete Wahrheits-Annäherung in meist kleinen Schritten, und eher selten eine Serie von Revolutionen. Mit Newtons Gravitationstheorie kann man heute immer noch gut arbeiten, auch wenn sie in manchen Nuancen, laut Einstein, ungenau ist.

Ein anderes Beispiel ist die Ernährungswissenschaft: Da werden oft "Revolutionen" ausgerufen, und dann kehrt man wieder vollständig zu einer älteren Theorie zurück. Esst keine Kohlenhydrate. Doch, esst sie. Trinkt niemals Alkohol. Doch, trinkt ab und zu. Macht eine Steinzeitkostdiät. Nein, macht keine. Alles falsch. Nein, alles doch richtig. Und dann doch wieder alles richtig falsch ...




Wolfgang Endemann
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Do 12. Dez 2024, 12:21

@ Quk

Über Popper müßte man sich einmal gesondert unterhalten. Hier geht es um das Trilemma, also die Frage, ob und gegebenenfalls wie das Fragen enden kann, auch ob es überhaupt ein Ende finden soll, und da gibt Popper eine eindeutige, nicht unintelligente, wenn auch unbefriedigende Antwort. Nur dazu und Deinen Kommentaren kurz:

Der Satz "Alles Wissen ist Vermutungswissen." ist gegen eine unkritische Haltung/Einstellung im Wissenschaftsbetrieb gerichtet, sagt aber nicht mehr aus als Kants "das Ding-an-sich ist unerkennbar", sogar weniger, wenn man unter Ding Realding versteht, und insofern wäre der kantsche Satz richtiger, denn die logisch-mathematischen Gedankendinge sind ja erkennbar wahr, nicht nur Vermutung. Popper hat das Falsifikationsprinzip an die Stelle des Verifikationsprinzips gesetzt, also beide keineswegs als äquivalent behandelt, wenn Du diesen Unterschied verwischst, entwertest Du den Kritischen Realismus. Popper läuft auf eine endlose Verbesserungsgeschichte hinaus.

Die Allgemeine RT ist eine sehr folgenreiche, das gesamte physikalische Weltbild betreffende Verallgemeinerung, wie der Name schon sagt, des Relativitätsprinzips. Das meinte ich aber nicht, sondern die RT im Gegensatz zur Newtonschen Physik, die ja selbst schon die erste Form einer Relativitätstheorie ist.
Und hier setzt ja Kuhn in der Kritik an Popper an. Der größte Fehler Poppers ist die Ignoranz des Moments der Konstruktion im Denken, der Dialektik (für Popper der Gottseibeiuns) von Denken und Sein, Induktion und Deduktion.




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Quk
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Do 12. Dez 2024, 12:40

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 12. Dez 2024, 12:21
Popper hat das Falsifikationsprinzip an die Stelle des Verifikationsprinzips gesetzt, also beide keineswegs als äquivalent behandelt, wenn Du diesen Unterschied verwischst, entwertest Du den Kritischen Realismus.
Ich verwische den keinesfalls, ganz im Gegenteil.




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Jörn Budesheim
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Do 12. Dez 2024, 14:11

In dem Text von Matthias Warkus heißt es: "Da man auch bei Begründungen immer nach dem Grund fragen kann, können Begründungen Ketten bilden..."

Und dann folgen drei Möglichkeiten, verkürzt gesagt:
  • infiniter Regress
  • Zirkel
  • dogmatischer Abbruch
In dem Text fehlt eine wichtige Unterscheidung, und zwar zwischen Grund und Begründung.

Grund: Wenn ein Kind in einem Planschbecken zu ertrinken droht, dann hat eine Person einen Grund zu helfen, sofern sie dazu fähig ist. Der Grund liegt einfach vor.

Begründung: Eine Begründung ist jedoch etwas anderes. Das ist das, was eine Person gibt, wenn man sie danach fragt, warum sie etwas getan (gedacht/gesagt/...) hat. Wenn die Person also gefragt wird, warum sie das und das getan hat, dann kann sie im vorliegenden Fall sagen, dass sie dem Kind ja helfen musste. Wer dann weiter fragt, zeigt damit höchstens, dass er die Situation nicht begreift. Das Weiter-Fragen wäre absurd und der "Abbruch" wäre keineswegs dogmatisch. Dogmatisch ist die Behauptung, dass jeder "Abbruch" dogmatisch ist. 

Wenn die Begründung den wirklichen Grund liefert, dann liegt gar kein "Abbruch" vor, schon gar nicht ein dogmatischer. 

Es gibt sogar noch einfachere Fälle: Aus welchem Grund glaubst du, dass die Vase blau ist? Weil ich es gerade sehe. [Ende]

Kurz: Das Trilemma, wie es häufig formuliert wird, unterschlägt die Möglichkeit, dass es in der Realität Gründe geben kann, die einfach vorliegen. Der dogmatische Abbruch, den das Trilemma anprangert, ist nur dann problematisch, wenn er willkürlich erfolgt. Ein vorliegender Grund oder eine unmittelbare Wahrnehmung (als Grund) sind jedoch beide nicht willkürlich, sondern eine ausreichende und richtige Antwort auf die Frage nach dem „Warum“. Das Weiter-Fragen kann absurd werden, wenn der Grund offenkundig ist. Zu behaupten, dass jeder Abbruch dogmatisch wäre, ist daher selbst eine dogmatische Behauptung.




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Thomas
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Do 12. Dez 2024, 15:42

Ich habe nur eine Frage zu dem Beispiel von Dir, Jörn: Wenn ein Kind in einem Planschbecken zu ertrinken droht, dann hat eine Person einen Grund zu helfen, sofern sie dazu fähig ist. Der Grund liegt einfach vor.

Was meinst Du mit in diesem Zusammenhang mit Grund oder der einfachen Vorliegen des Grundes? Du meinst ja bestimmt keinen Grund im Sinne der Kausalität; denn man kann ja auch die Hilfe unterlassen, d.h., die Situation verursacht nicht meine Hilfe. Ich verstehe Dich so, dass Du meinst, dass von der Situation eine Art (moralischer? psychologischer?) Appell ausgeht, der alles andere als Hilfe merkwürdig erscheinen lässt. In diesem Fall gäbe es also irgendwie einen (natürlich nicht-kausalen) Mechanismus des Helfens, der dann auch tatsächlich (aber eben nicht kausal) einschnappt. Verstehe ich Dich da richtig?

(Ich stimme Dir auf jeden Fall zu, wenn Du schreibst: "Das Weiter-Fragen kann absurd werden, wenn der Grund offenkundig ist." Wenn jemand auf Nachfrage hin sagt, warum er etwas getan hat - "Warum haben Sie Trump gewählt? Weil ich ihn cool finde!" dann kann man zwar theoretisch immer weiterfragen. Aber eigentlich muss man das ja nicht, denn hat man ja den Grund, den man erfahren wollte, schon herausgefunden.)




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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 11. Dez 2024, 23:16

Wie die obigen Sätze besagen, gibt es keine reine Autonomie, "deren der Mensch als Vernunftwesen fähig ist" ist die Einschränkung. Das entzieht uns einen naiven Idealismus, wir sind Naturobjekte, keine reinen Vernunftwesen. Aber die Vernunft in uns läßt uns wie fragmentarisch auch immer die Welt verstehen, und sogar uns als Verstehende, und schließlich das Verstehen selbst. Das ist ein imprädikativer Sachverhalt. Das ist kein unendlicher Regress, und das ist keine willkürliche Setzung wie im Trilemma postuliert, aber es ist auch keine einfache Zirkularität, das dritte im Trilemma.
Ich denke ..

  • "Sie ist also selbst zu fragen: Was ist das Diese? Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins, als das Jetzt und als das Hier, so wird die Dialektik, die es an ihm hat, eine so verständliche Form erhalten, als es selbst ist. Auf die Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.
    Das Jetzt, welches Nacht ist, wird aufbewahrt, d.h. es wird behandelt als das, für was es ausgegeben wird, als ein Seiendes; es erweist sich aber vielmehr als ein Nichtseiendes. Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist; ebenso erhält es sich gegen den Tag, der es jetzt ist, als ein solches, das auch nicht Tag ist, oder als ein Negatives überhaupt. Dieses sich erhaltende Jetzt ist daher nicht ein unmittelbares, sondern ein vermitteltes; denn es ist als ein bleibendes und sich erhaltendes dadurch bestimmt, daß anderes, nämlich der Tag und die Nacht, nicht ist."
    Hegel ... Phänomenologie des Geistes
. um sich dazu an dieser Stelle ... gleichfalls!... auf dieses Zitat von Hegel zu beziehen, dass es sich mit der Vernunft genauso verhält wie mit der Nacht . Auch dergleichen "erhaltendes Jetzt" ist nicht ein unmittelbares, sondern ein vermitteltes … dadurch bestimmt, daß anderes, nämlich die Unvernunft und die Vernunft , nicht ist. Denn wenn wir auf die Frage: was ist das Jetzt antworten: das Jetzt ist die Vernunft und diese Wahrheit aufschreiben. Wird man wohl auch da nicht umhinkommen irgendwann sagen zu müssen, wenn wir die aufgeschriebene Wahrheit wieder anschauen, daß sie schal geworden ist. Schal geworden durch die Unvernunft. Wenn man also von daher die Vernunft als ein vermitteltes durch die Unvernunft, wie auch umgekehrt die Unvernunft als ein vermitteltes durch die Vernunft versteht, so würde demnach eine Zirkularität durch das jeweils Negative bestehen. Wie bei der Zirkularität von Tag und Nacht … "als ein Negatives überhaupt (Hegel)".

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 12. Dez 2024, 12:21
@ Quk

Über Popper müßte man sich einmal gesondert unterhalten. Hier geht es um das Trilemma, also die Frage, ob und gegebenenfalls wie das Fragen enden kann, auch ob es überhaupt ein Ende finden soll,

.. vor dem Hintergrund des Trilemma und der Frage , ob und gegebenenfalls wie diese Zirkularität enden kann, auch ob sie überhaupt ein Ende finden soll , allerdings aus naheliegenden Gründen hoch problematisch.




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Dez 2024, 07:16

"Was meinst Du mit in diesem Zusammenhang mit Grund oder der einfachen Vorliegen des Grundes? Du meinst ja bestimmt keinen Grund im Sinne der Kausalität; denn man kann ja auch die Hilfe unterlassen, d.h., die Situation verursacht nicht meine Hilfe. Ich verstehe Dich so, dass Du meinst, dass von der Situation eine Art (moralischer? psychologischer?) Appell ausgeht, der alles andere als Hilfe merkwürdig erscheinen lässt. In diesem Fall gäbe es also irgendwie einen (natürlich nicht-kausalen) Mechanismus des Helfens, der dann auch tatsächlich (aber eben nicht kausal) einschnappt. Verstehe ich Dich da richtig?" (Thomas)

Eigentlich wissen wir alle, was Gründe sind, denn sie gehören zu unserem Alltag. Ein Handlungsgrund ist etwas, was für eine Handlung spricht. Ebenso verhält es sich mit Gründen dafür, etwas zu glauben. Hier ist ein Grund etwas, das dafür spricht, etwas für wahr zu halten. Beides sind natürlich keine Mechanismen, denn wir können die Gründe, an denen wir uns orientieren sollten, in den Wind schlagen. Wer keinen Knoblauch mag, hat einen guten Grund, keinen ans Essen zu machen. Er kann es aber trotzdem tun. Außerdem bedeutet der Umstand, dass Gründe objektiv sind, dass wir uns darüber auch irren können; wir können fälschlicherweise glauben, wir hätten einen Grund dieses oder jenes zu tun, zu wünschen, oder für wahr zu halten. Wer glaubt, dass Hans' Versprechen, uns das Geld morgen zurückzugeben, einen guten Grund liefert, damit auch zu rechnen, kann falsch liegen, falls Hans als notorisch unzuverlässig bekannt ist.

Dementsprechend sind Gründe und Begründungen auch verschieden.

Was sind Gründe? Hier ist die Bedeutung, von der ich ausgehe, in einer kurzen Formel: Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. 

Dazu zwei Quellen:

"Gründe [hängen] immer von den für unser Denken und Handeln relevanten physischen und psychischen Tatsachen abhängen. Gründe wohnen nicht in einem platonischen Himmel, der über den konkreten Dingen schwebt, mit denen wir es im Alltagsleben zu tun haben. Gründe bestehen in einer bestimmten Art von Beziehung, der normativen Beziehung des Sprechens-für, in der Phänomene der natürlichen Welt zu unseren Denk- und Handlungsmöglichkeiten stehen. Gründe sind also relationaler Art. Obwohl sie darum nicht weniger objektiv sind, da auch Relationen Teil der Wirklichkeit sein können, trägt diese ihre relationale Beschaffenheit der Selbstverständlichkeit Rechnung, dass Gründe nur existieren, sofern es Wesen wie uns gibt, die solche Möglichkeiten haben. Nur, daraus folgt gar nicht [...], dass wir selbst die Urheber ihrer Autorität sein müssen. Dass etwas für etwas anderes spricht, ist im Allgemeinen eine Wahrheit, die wir entdecken, nicht eine Regel, die wir uns auferlegen." (Charles Larmore)

Alle Gründe, die für uns gelten, üben über uns (ob wir ihrer gewahr werden oder nicht) eine Autorität aus in dem Sinne, dass sie angeben, wie wir denken oder handeln sollten, sofern nichts Wichtigeres, das heißt ein wichtigerer Grund, dagegen spricht. (Charles Larmore)


Der Philosoph Derek Parfit ist der Ansicht, dass der Begriff des Grundes nicht definiert werden kann, schlägt aber (neben anderen) eine Formulierung vor, die der von Charles Larmore sehr ähnlich ist: "Es ist schwer, den Begriff eines Grundes zu erklären bzw. zu erläutern, was der Ausdruck »ein Grund« bedeutet. Wir könnten sagen, dass Tatsachen uns Gründe liefern, wenn sie dafür sprechen, dass wir eine bestimmte Haltung haben oder dass wir auf eine bestimmte Weise handeln sollten."

"Normative Gründe

Wir sind diejenigen Tiere, die Gründe sowohl verstehen als auch auf sie reagieren können. Diese Fähigkeiten haben uns großes Wissen gegeben und die Macht, die Zukunft des Lebens auf der Erde zu kontrollieren. [...] Wir können Gründe dafür haben, etwas zu glauben, etwas zu tun, irgendeinen Wunsch oder ein Ziel sowie viele andere Einstellungen und Emotionen zu haben, wie zum Beispiel Angst, Bedauern und Hoffnung. Gründe werden durch Tatsachen geliefert, wie zum Beispiel die Tatsache, dass sich die Fingerabdrücke einer Person auf einer Schusswaffe finden oder dass das Rufen eines Krankenwagens jemandem das Leben retten würde. Es ist schwer, den Begriff eines Grundes zu erklären bzw. zu erläutern, was der Ausdruck »ein Grund« bedeutet. Wir könnten sagen, dass Tatsachen uns Gründe liefern, wenn sie dafür sprechen, dass wir eine bestimmte Haltung haben oder dass wir auf eine bestimmte Weise handeln sollten. Aber »spricht für« bedeutet in etwa »liefert einen Grund für«. Wie einige andere grundlegende Begriffe, so wie die, die mit unseren Gedanken über Zeit, Bewusstsein und Möglichkeit verbunden sind, ist der Begriff eines Grundes in dem Sinne undefinierbar, dass man ihn nicht allein mit Worten gewinnbringend erklären kann. Wir müssen solche Begriffe auf eine andere Weise erklären, und zwar, indem wir Menschen dazu bringen, Gedanken zu haben, in denen solche Begriffe vorkommen. Ein Beispiel ist der Gedanke, dass wir immer einen Grund haben, es vermeiden zu wollen, Qualen zu erleiden. Ich behaupte, dass wir Gründe haben können, ohne diese zu kennen. Angenommen, ich frage meine Ärztin: »Habe ich angesichts der Tatsache, dass ich gegen Äpfel allergisch bin, einen Grund, bestimmte andere Lebensmittel nicht zu essen?« Wenn meine Ärztin weiß, dass Walnüsse für mich tödlich wären, sollte ihre Antwort »Ja« lauten. Diese Tatsache liefert mir einen Grund. [...]" (Derek Parfit)


Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität, Frankfurter Vorlesungen, Suhrkamp
Derek Parfit, Personen, Normativität, Moral, Ausgewählte Aufsätze, Suhrkamp




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Thomas
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Fr 13. Dez 2024, 10:13

@Jörn: Ich verstehe diese Komponente der Erklärung vielleicht noch nicht so ganz: „Außerdem bedeutet der Umstand, dass Gründe objektiv sind, dass wir uns darüber auch irren können, wir können fälschlicherweise glauben, wir hätten einen Grund dieses oder jenes zu tun, zu wünschen, oder für wahr zu halten."

Angenommen jemand wird an der Kinokasse interviewt: „Warum gehen Sie ins Kino?“ Als Grund gibt er dann Folgendes an: „Ich will den neuen Tarantino-Film sehen“. „Und warum?“ „Weil ich ein Tarantino-Fan bin. Ich schaue mir jeden Film von ihm an“. Der Befragte liefert hier eine Begründung seines Tuns, d.h., er sagt, was sein Grund für seinen Kinobesuch ist, bzw. was diesen motiviert. Oder auch autorisiert (gemäß dem Begriff der Autorität von Larmore.) Vom Münchhausen-Trilemma aus gesehen können wir sagen: Ein Begründungszirkel oder ein Regress liegen hier nicht vor, wohl aber ein (pragmatisch motivierter) Abbruch der Begründung: Der Grund, nach dem der Interviewer gefragt hatte, ist ja benannt, die Begründungskette kann als beendet gelten.

Ich gehe davon aus, dass mit der Objektivität von Gründen nicht gemeint sein kann: „Tarantino-Filme sind an sich (für alle oder objektiv sehenswert), man muss sie unbedingt sehen“. Ich kann den Begriff ‚objektiver Grund‘ höchstens so verstehen: Die Tatsache, die dem Befragten einen Grund liefert, ins Kino zu gehen, ist die, dass er Tarantino-Filme mag. Allgemeiner gesagt: Vorlieben sind objektiv Gründe für ein entsprechendes Verhalten. Damit ist dann natürlich gar nicht mitgemeint, dass man inhaltlich etwas Bestimmtes gut oder schlecht finden muss. Dass Gründe objektiv sind, heißt dann einfach, dass mein Verhalten tatsächlich von etwas abhängt, das auf mich und mein Verhalten einen (nicht-kausalen) Einfluss hat – also eine Autorität darstellt. Wenn das mit objektivem Grund gemeint ist, kann ich voll mitgehen! (Und Irrtumsmöglichkeit heißt dann, dass wir halt nicht immer genau wissen, was uns jeweils konkret motiviert; aber auch wenn wir es nicht wissen, ist objektiv etwas Motivierendes da – denn es ist ja nicht so, dass uns der Wind ins Kino geweht hat.)




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Quk
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Fr 13. Dez 2024, 11:15

Ich sehe das so:

Das "Prinzip des Grundes" ist ein Prinzip der Logik und somit nicht der Kausalität.
Weinliebhaber trinken gerne Wein. Der Grund: Sie lieben Wein. -- Das ist eine allgemeine, zeitlose Tatsache.

Die Logik formalisiert hier allgemein. Sie treibt aber nicht an. Für den Antrieb gibt es spezielle Ursachen (nicht Gründe) in der kausalen Lebensgeschichte:
Die Lust auf Wein und dessen Verfügbarkeit jetzt um 11 Uhr motiviert den Otto, in diesem Augenblick zum Weinglas zu greifen. Hier in diesem Lebensmoment sind Kausalketten im Spiel. Das ist der eigentliche Antrieb. Die Logik ist nicht der Antrieb; sie ist nur eine Beschreibung des allgemeinen Prinzips des Grundes.




Wolfgang Endemann
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Fr 13. Dez 2024, 12:00

Begründungen für eine Aussage A können falsch (in sich oder als Begründung von A), können partielle und können hinreichende Begründungen sein. In letzterem Fall begründen sie das Ende der Befragung nach Gründen. (@ Quk. Auch Zweifel sind begründungsbedürftig. Weiterfragen ist nur begründbar, wenn ich gute Gründe für Zweifel habe.)
Gründe sind implikative Strukturen. Die können objektiver und subjektiver Natur sein. Objektiv sind Gründe zu nennen, die universell, unabhängig von Subjekten gelten. Subjektive Gründe, man redet oft von Motivation, sind keine feststehenden, unbedingte Gründe. Verschiedene Gründe können sich überlagern und beeinträchtigen, verstärken oder bis zur Neutralisierung schwächen.
Wenn A hinreichende (s.o.) Gründe für B liefert, können wir schreiben: A → B, (hinreichende) Gründe können zirkulär sein, also A → B und B → A, dann gilt die Äquivalenz A ↔ B; gilt dagegen A→B und ¬(B→A), dann reden wir von Kausalität. B kann von einer Vielzahl von Bedingungen aᵢ abhängen, dann sucht die Wissenschaft die aus aᵢ gebildete Bedingungsmenge A, für die gilt:
A→B ᴧ (A Ȼ X → ¬(X→B)), und formuliert damit das Naturgesetz A→B, also den determinierten Zusammenhang eines Zustands B mit seiner minimalen hinreichenden Bedingungsmenge. Darüberhinaus wird man versuchen, auch B zu minimieren, also B so zu wählen, daß
B = ∩X(A→X).
Im Fall von A↔B, wobei A≠B, reden wir nicht von Kausalität, sondern von Korrelation, A und B sind komplementär.

Ich bin der Meinung, daß damit genau expliziert ist, was Gründe sind.




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Thomas
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Fr 13. Dez 2024, 13:32

Das Thema ist ziemlich vertrackt; naja, das ist es ja immer, wenn man genauer bei einem Thema einsteigt. Ich ordne das ganze für mich etwa so:

- Kausalursache: Der Stein rollt den Berg runter. Warum? Weil der Wind so stark bläst, dass er den Stein ins Rollen bringt.

- Motiv: Peter geht ins Kino. Warum? Weil er Lust hat auf den neuen Tarantino-Film.

- Logischer Grund: Es gilt B. Warum? Weil: Wenn A, dann B; nun aber A.

Umgangssprachlich unterscheidet man bei der Untersuchung des Warum nicht streng zwischen Ursache, Motiv und Grund. Das ist aber auch nicht nötig, weil man ja meistens weiß, wie die Dinge liegen: Man weiß, dass Steine nicht motiviert sind oder aus logischen Gründen losrollen. Und man weiß auch, dass Menschen nicht aus kausalen Ursachen oder logischen Gründen ins Kino gehen. Und man weiß auch, dass logische Folgerungen und Argumente keine Naturkräfte oder Motivationen beinhalten.

Was alle drei Fälle aber eint, ist, dass jeweils etwas der Fall ist und auf sein jeweiliges Warum hin erklärt werden soll: Einmal greift dabei die Kategorie der Kausalität, das andere Mal die der Motivation, und beim dritten die Kategorie des logischen Grundes.

Begründungen werden m.E. in allen drei Fällen versucht, denn es geht ja immer um die Angabe des jeweiligen Warum. Jede Begründung gibt immer einen logischen Grund an – und zwar auch für Sachen, die an sich selbst gar nicht logisch sind (wie rollende Steine oder motivierte Kinobesucher). Begründung ist ja immer Rationalität oder Rationalisierung; darin unterscheidet sie sich von Kausalität (Ursächlichkeit) oder Motivation. Insofern stimme ich Quk voll zu, dass der Begriff des Grundes zur Logik gehört bzw. für Rechtfertigungszusammenhänge einschlägig ist.

(Und natürlich kann man dann auch wieder, wenn man will, nach der Motivation dafür fragen, dass jemand eine Sache logisch rechtfertigen bzw. begründen möchte.)
Zuletzt geändert von Thomas am Fr 13. Dez 2024, 13:35, insgesamt 1-mal geändert.




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