Erzählungen, Geschichten, Narrationen

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn Budesheim
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Sa 18. Jan 2025, 07:54

Gestern ist David Lynch gestorben. Eraserhead, der Elefantenmann, Blue Belvet ... Die meisten in meiner Generation dürften diese und oder andere Filme von ihm kennen.

Bild

Ich wusste bis gestern gar nicht, dass David Lynch eigentlich Maler und Zeichner war. Die Abbildung zeigt eine seiner vielen Zeichnungen/Gemälde. In einem Interview erzählt er, wie es dazu kam. Es war, wie er erzählte, ein einzelner Moment, der einschlug wie eine Bombe.

Hier sinngemäß wiedergegeben:

„Ich habe immer gerne gemalt und gezeichnet. Aber ich dachte nie, dass ein Erwachsener Maler sein könnte. Darüber habe ich wohl einfach nie nachgedacht. Doch dann: Ich stand abends im Vorgarten meiner Freundin und traf dort einen Jungen, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er ging nicht auf meine Schule, sondern auf eine Privatschule. Ich war, glaube ich, in der neunten Klasse. Wir kamen ins Gespräch, und während unseres Gesprächs erzählte er mir, dass sein Vater Maler sei. Zuerst dachte ich, er meinte einen Anstreicher. Aber dann sagte er: ‚Nein, ein bildender Künstler.‘ Und buchstäblich in diesem Moment explodierte eine Bombe in meinem Kopf.

In weniger als einer Sekunde – wirklich in einem Bruchteil einer Sekunde – wollte ich nur noch Maler werden. Es war, als hätte ich plötzlich die Erlaubnis bekommen. Und ich wusste sofort, das war es – das war alles, was ich von da an wollte.

Ich überredete ihn, mich ins Atelier seines Vaters mitzunehmen, das damals in Georgetown war. Ich lebte zu der Zeit in Virginia und ging dort zur High School. Sein Vater hieß Bushnell Keeler, und der Junge hieß Toby. Also nahm Toby mich mit ins Atelier seines Vaters. Es war ein echtes, authentisches Atelier, und ich verliebte mich Hals über Kopf.

Das war der Moment, der alles für mich in Gang setzte.“

Ich habe eine Zeit lang gedacht, dass wir Menschen im Wesentlichen unsere Geschichten sind, vielleicht ist das nicht mal völlig falsch ... Warum erzählen wir uns? Warum sind Geschichten überhaupt für uns so wichtig? Seit es Menschen gibt, werden Geschichten erzählt oder vielmehr: seit Geschichten erzählt werden, gibt es Menschen.




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Quk
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Sa 18. Jan 2025, 15:52

Vielleicht, weil wir lernbegierig sind, weil wir Lust auf Erfahrung haben? Und weil wir ein Mitteilungsbedürfnis haben? Ständig füttern wir uns wechselseitig mit Neuigkeiten. Die Fütterung erfolgt oft erzählerisch, so dass der Gefütterte auch sinnlich bereichert wird. Solche Erzählungen bleiben lange haften. Langweilige, unsinnliche Fütterungen werden schnell vergessen. Also, ich glaube, es ist vor allem die Lust auf Erfahrung und die Lust, ausgeschmückt mitzuteilen. Das sind zweierlei Keime. -- Hmm ... poetisch betrachtet könnte ich jetzt die Erfahrungslust als Ei bezeichnen und die Mitteilungslust als Samen. Das eine braucht das andere. Und dann wird es fruchtig ...

Wie immer kann man natürlich die Warum-Kette weiterführen. Warum entstanden diese Keime?




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Stefanie
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Sa 18. Jan 2025, 17:11

Werden keine Geschichten mehr erzählt, oder gibt es keine Gegenstände mehr, wie Bücher, Bilder, Filme, Steinplatte oder Höhlenzeichnungen etc., durch die Geschichten festgehalten wurden, ist eine Kultur, ein Volk oder auch eine Familie oder Einzelperson ausgestorben. Es gibt sie nicht mehr. Nichts ist mehr vorhanden, was ein Zeugnis ist für das Leben von Menschen. Es gibt keine Erinnerungen mehr.
Von untergegangen Kulturen und Völker wissen wir nur etwas, weil wir Geschichten von ihnen gefunden haben, in Schriftrollen, Steinplatte mit Zeichen usw.
Will man ein Volk ausrotten, tötet man zu erst die Menschen, damit diese keine Geschichten mehr erzählen können, dann zerstört man deren Besitz, oder widmet es um, damit niemand und nichts mehr da ist, was etwas über dieses Volk erzählt werden kann.

Geschichten stiften Identität und Gemeinschaften, sichern das Weitergeben von Informationen und beweisen, jetzt und damals haben hier Menschen gelebt.



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Quk
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Sa 18. Jan 2025, 18:19

Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Es gibt keine Erinnerungen mehr.
Ja. Zudem gäbe es dann auch keine Fehler-Erinnerungen mehr. Heißt: Wir würden unsere Fehler ständig wiederholen. (Was wir teilweise bereits tun, aber nicht vollständig.) Ich denke, es geht also nicht nur um Identitäts-Erinnerung; es geht auch um Zukunfts-Planung. Ohne Erinnerung haben wir keine Grundlagen für Entscheidungen. Wir würden immer wieder bei Null anfangen. Wir würden erst gar nicht anfangen, uns zu entwickeln.




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Jörn Budesheim
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So 19. Jan 2025, 07:43

Quk hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 18:19
Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Es gibt keine Erinnerungen mehr.
Ja. Zudem gäbe es dann auch keine Fehler-Erinnerungen mehr. ...
@Quk: Fehler könnten wir doch auch in Tabellenform notieren, um aus ihnen zu lernen. Oder in Form von Natur-Gesetzen, Statistiken oder ähnlichem. Es könnte also auch "Fehler-Erinnerungen" geben ohne Geschichten. Aber diese "nüchternen" Formen motivieren uns oft gar nicht, anders zu handeln, bzw. zu lernen.

@Stefanie: Und auch die Spuren, die uns an vergangene Kulturen erinnern, müssen nicht in Form von Geschichten vorliegen. Wir können z.b einfach Knochenfunde auswerten oder ähnliches und oft geschieht das ja auch. Die Erinnerung an eine Kultur oder an Menschen könnte also auch in anderer Form bewahrt werden, oder?




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Jörn Budesheim
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So 19. Jan 2025, 08:05

Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Geschichten stiften Identität und Gemeinschaften ...
Das denke ich auch. Aber warum sind gerade Geschichten dazu in der Lage?




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Quk
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So 19. Jan 2025, 17:39

Quk hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 15:52
Ständig füttern wir uns wechselseitig mit Neuigkeiten. Die Fütterung erfolgt oft erzählerisch, so dass der Gefütterte auch sinnlich bereichert wird. Solche Erzählungen bleiben lange haften. Langweilige, unsinnliche Fütterungen werden schnell vergessen. Also, ich glaube, es ist vor allem die Lust auf Erfahrung und die Lust, ausgeschmückt mitzuteilen.
Eine Tabelle ist keine Erzählung. Eine Tabelle ist langweilig und daher wird sie schnell vergessen.




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Stefanie
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So 19. Jan 2025, 17:50

Jörn
Wir können z.b einfach Knochenfunde auswerten oder ähnliches und oft geschieht das ja auch. Die Erinnerung an eine Kultur oder an Menschen könnte also auch in anderer Form bewahrt werden, oder?
Wir haben dann aber nur die Daten, die wir mit modernen Methoden feststellen. Wie alt die Knochen sind, Mineralien, gesundheitlicher Zustand, Größe, mit Glück anhand DNA ob Frau oder Mann, vielleicht was sie gegessen haben, vielleicht ob der Tod durch Gewalt eingetreten ist. Wir wissen aber nicht wie sie gelebt haben, keine Namen, gab es Feste, Kriege mit wem, wurde geheiratet, wie war das soziale Leben. Wir wissen nur durch Knochenfunde nicht wirklich was über deren Leben.



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Jörn Budesheim
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So 19. Jan 2025, 17:58

Quk hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 18:19
Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Es gibt keine Erinnerungen mehr.
Ja. Zudem gäbe es dann auch keine Fehler-Erinnerungen mehr. Heißt: Wir würden unsere Fehler ständig wiederholen. (Was wir teilweise bereits tun, aber nicht vollständig.) Ich denke, es geht also nicht nur um Identitäts-Erinnerung; es geht auch um Zukunfts-Planung. Ohne Erinnerung haben wir keine Grundlagen für Entscheidungen. Wir würden immer wieder bei Null anfangen. Wir würden erst gar nicht anfangen, uns zu entwickeln.
Ich habe mich auf dieses Zitat bezogen, Quk. Du schreibst sinngemäß, wenn es keine Geschichten gäbe, gäbe es auch keine Fehler-Erinnerungen mehr. Aber das kann es eben auch ohne Geschichten geben.

Dass man Erinnerungen an Fehler auch in Geschichten packen kann, bezweifle ich natürlich nicht, aber es geht sicher auch ohne Geschichten, denke ich.




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Stefanie
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So 19. Jan 2025, 18:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Jan 2025, 08:05
Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Geschichten stiften Identität und Gemeinschaften ...
Das denke ich auch. Aber warum sind gerade Geschichten dazu in der Lage?
Gute Frage. So richtig kann ich es nicht beantworten.
Erzählen kann jeder und jede. Es sind keine technischen Kenntnisse notwendig, keine künstlerisches Talent notwendig, die Grammatik muss auch nicht perfekt sein, es kann im Dialekt erzählt oder auch geschrieben werden. Also es können alle Geschichten erzählen.
Früher war es wohl auch Unterhaltung.
Man muss auch zuhören, also sich darauf einlassen. Auf den, der eine Geschichte erzählt, auf die Geschichte selber.
Geschichten sind auch Teil der Bewältigung von Ereignissen. Bei Beerdigungen z.B. erzählt man sich viel über den oder die Verstorbene.



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Quk
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So 19. Jan 2025, 18:09

Jörn, aber der Zusammenhang mit meinem ersten Kommentar ist essentiell. Das ist mein Kontext. Wenn Du den ausblendest, kannst Du meinen Gedankengang nicht verstehen.

Zu den Knochenfunden:

Auch da sage ich: Ein Lexikon oder eine Datenbank ist keine Erzählung. Ein Lexikon ist eine gefühlslose Liste. Nur bestimmte Autisten können sich solche Listen merken. Wenn wir etwas erlebt haben, erzählen wir uns etwas darüber. Erzählungen sind sinnliche, Gefühle auslösende Texte; beim Zuhören oder Lesen fühlt man sich, als wäre man selber dabei. Solche Texte gehen in uns hinein und bleiben in uns haften. Anfangs lief das meist sowieso nur von Mund zu Mund, ohne Schrift. Das lief vermutlich nicht langweilig tabellarisch oder lexikalisch ab, sondern ausgeschmückt mit Melodie, Mimik, Sinnlichkeit. Das nenne ich eine Erzählung.

Kein Mensch merkt sich Fehler-Tabellen. Man muss sie erzählen.




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Jörn Budesheim
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So 19. Jan 2025, 18:26

Wir können mit Geschichten Erinnerungen (an Fehler und alles mögliche) bewahren, daran kann es keinen Zweifel geben. Mit Geschichten geht es sogar besonders gut. Aber eben nicht nur mit Geschichten. Man kann Erinnerungen eben auch auf andere Art und Weisen bewahren.




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Stefanie
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So 19. Jan 2025, 18:53

Hinter einem Erinnerungsstück steckt doch eine Geschichte. Oder?
Photos, Bilder, Gegenstände, Musik, Kleidung, Schmuck. Oder eine Tabelle mit irgendwelchen Daten. An was können sich die Menschen erinnern, wenn niemand mehr da ist, der die Geschichte dahinter kennt, oder nichts schriftliches mehr vorhanden ist?
Dann ist ein Ring nur noch ein Ring, eine Tabelle nur eine Tabelle.



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Jörn Budesheim
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So 19. Jan 2025, 19:09

Ich bezweifle nicht, dass Geschichten für uns essentiell sind vermutlich eine anthropologische Konstante, ein menschliches Bedürfnis. Deswegen habe ich gleich im Startbeitrag geschrieben: Seit es Menschen gibt, werden Geschichten erzählt oder vielmehr: seit Geschichten erzählt werden, gibt es Menschen. Mir geht es in diesem Faden also darum gemeinsam, die Wichtigkeit von Geschichten für uns herauszuarbeiten.
Quk hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 15:52
sinnlich
Erzählungen sind sinnlich, das unterschreibe ich. Wir sind "mitteilungsbedürftig", sehe ich auch so. "Lust auf Erfahrung" - ja, sehe ich auch so. Mit Erzählungen können wir zum Beispiel Erfahrungen teilen. Mit Erzählungen können wir auch Erfahrungen "durchleben" ohne sie wirklich zu durchleben.
Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Geschichten stiften Identität und Gemeinschaften
Bin ich dabei.
Stefanie hat geschrieben :
Sa 18. Jan 2025, 17:11
Werden keine Geschichten mehr erzählt, oder gibt es keine Gegenstände mehr, wie Bücher, Bilder, Filme, Steinplatte oder Höhlenzeichnungen etc., durch die Geschichten festgehalten wurden, ist eine Kultur, ein Volk oder auch eine Familie oder Einzelperson ausgestorben.
In einem metaphorischen Sinn unterschreibe ich das auch.




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Stefanie
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So 19. Jan 2025, 20:59

Wie bei mir zu erwarten, fiel mir natürlich Hannah Arendt ein. Gestern Nacht habe ich folgende Artikel gefunden. Die Autorin sieht das Erzählen von Geschichten als ethische Pflicht an. Sie erläutert dies an dem Beispielen von Flüchtlingen, heute wie damals.

https://www.chateau-orion.fr/blog/2019/ ... geschichte
Laut Hannah Arendt ist jedoch die einzige Antwort, die wir auf die Frage danach, wer wir sind, geben können, eine Geschichte, die wir über uns erzählen. Sie versteht Identität damit als narrative Identität, d.h. Identität konstituiert sich dadurch, dass wir eine Geschichte über uns erzählen. Diese ist nicht statisch, sondern entwickelt sich jederzeit weiter, kann sich darüber hinaus sogar ändern. Unter „Narrativität“ versteht Hannah Arendt das Erzählen von Lebensgeschichten.

Ich vertrete die These, dass das Erzählen von Lebensgeschichten bei Hannah Arendt normativ verstanden wird. Das bedeutet, dass wir uns nicht einfach nur Geschichten über uns und andere erzählen – das scheint mir unbestreitbar, denn wir tun es täglich – sondern, dass es gewissermaßen eine Notwendigkeit dafür gibt, dass wir mit dem Geschichtenerzählen über uns und andere niemals aufhören sollten. Letztendlich, so meine Argumentation, handelt es sich um eine ethische Pflicht

Warum genau nun sollte das Geschichtenerzählen über Menschen als eine ethische Pflicht verstanden werden? Es wird gemeinhin zwischen deskriptiven narrativistischen Theorien und normativen narrativistischen Theorien unterschieden. Vertreter deskriptiver, also beschreibender, narrativistischer Theorien behaupten zunächst einmal nur, dass es faktisch so ist, dass Menschen sich und ihre Geschichte(n) zum Gegenstand von Narrationen, also Erzählungen, machen. Vertreter normativer narrativistischer Theorien behaupten zudem, dass dies so sein sollte, weil es aus irgendeinem Grund gut, geboten oder rational ist.
https://www.chateau-orion.fr/blog/2019/ ... te-teil-ii
.
Geschichten vermögen für Hannah Arendt etwas zu leisten, wozu abstrakte Theorien und bloße Argumente nicht in der Lage sind. In ihrer Wahl ihrer Methode, mit Hilfe derer sie politische Theorie betreibt – nämlich das Geschichtenerzählen – liegt für mich die eigentliche Begründung für die ethische Forderung, dass wir mit dem Geschichtenerzählen über Menschen weitermachen sollten.

Es scheint vielmehr so zu sein, dass das Erzählen von Geschichten erst unter bestimmten Bedingungenvon großer Bedeutung wird und damit auch erst unter bestimmten Bedingungenvon einer Forderung gesprochen werden kann. Zumeist wohl dann, wenn es zu einer Art von Konflikt kommt und wir das Bedürfnis haben, etwas besser zu verstehen, nach Gründen zu suchen oder gar eine Person auffordern, Rechenschaft abzulegen (im Extremfall vor Gericht).

Nun ist das Geschichtenerzählen jedoch nicht nur eine politische Forderung, um Welt in ihrer Pluralität zu erhalten, sondern auch eine ethische, denn es hat seit jeher Menschen gegeben, die ausgeschlossen und marginalisiert wurden und die damit immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Geschichte und ihre Perspektive nicht wahrgenommen wurden. Geschichten und Geschichte, die beispielsweise nur aus der Täterperspektive erzählt werden und die Opfer verstummen lassen, sind nicht vollständig.
Das Geschichtenerzählen leistet damit eine weitere, vielleicht heute wichtigste ethische Funktion: Sie ermöglicht Einblicke in die Anderen und ihre Fremdartigkeit beginnt dann zu weichen, wenn wir besser verstehen, wer sich hinter demFlüchtling verbirgt
.

https://www.chateau-orion.fr/blog/2019/ ... nah-arendt
In meinem dritten und letzten Schritt möchte ich also noch einmal für eine Ethik der Narrativität plädieren. Die ethische Pflicht des Geschichtenerzählens hat nicht nur etwas mit der Konstitution von individueller oder kollektiver Identität oder dem Wiederherstellen von Würde zu tun. Das Geschichtenerzählen, das auch für das Tradieren und Verstehen von großer Bedeutung ist, ermöglicht es uns um besten Fall, aus der Vergangenheit zu lernen und damit schreckliche Dinge nicht zu wiederholen. Auch hierbei handelt es sich um eine ethische Pflicht, letztendlich aber auch um eine politische Forderung.



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So 19. Jan 2025, 21:34

Stefanie hat geschrieben :
So 19. Jan 2025, 20:59
https://www.chateau-orion.fr/blog/2019/ ... geschichte
Laut Hannah Arendt ist jedoch die einzige Antwort, die wir auf die Frage danach, wer wir sind, geben können, eine Geschichte, die wir über uns erzählen
Ich habe gestern beim Essen von diesem Faden erzählt und dann aus Spaß durchgespielt, wie es wäre, wenn jemand auf die Frage, wer er oder sie ist, nicht mit einer Geschichte antwortet, sondern mit einer Auflistung von Maßangaben oder Ähnlichem: Gewicht, Arm- und Beinlänge, Körpergröße, detaillierte Angaben zum Gehirn, etwa das Gewicht, den Umfang, geschmückt mit Fachbegriffen wie Dendriten, Neuronen oder was es da alles gibt, sowie weiteren Angaben zu inneren Organen usw. Damit würde man wohl Erstaunen ernten :)




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Jan 2025, 08:26

Aus dem Text:
  • Das Erzählen dient uns dazu, Ereignisse über Generationen hinweg zu tradieren und zu erinnern.
  • Das Erzählen dient dazu, Dinge im Nachhinein besser zu verstehen
  • Das Erzählen von Geschichten stiftet Gemeinschaft und leistet einen wesentlichen Beitrag zu kollektiver Identität
  • Das Erzählen konstituiert auch unsere jeweils einzigartige individuelle Identität.
(Die Texte sind lang, hab noch nicht viel gelesen, hoffe, dass ich die Tage Zeit dazu finde.)




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Stefanie
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Mo 20. Jan 2025, 09:32

Das halte ich auch für einen wichtigen Punkt:

"Das Geschichtenerzählen leistet damit eine weitere, vielleicht heute wichtigste ethische Funktion: Sie ermöglicht Einblicke in die Anderen und ihre Fremdartigkeit beginnt dann zu weichen, wenn wir besser verstehen, wer sich hinter dem Flüchtling verbirgt."

Das bezieht sich nicht aud Flüchtlinge.. Sondern auf alle Menschen, die "ausgeschlossen und marginalisiert wurden und die damit immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Geschichte und ihre Perspektive nicht wahrgenommen wurden. Geschichten und Geschichte, die beispielsweise nur aus der Täterperspektive erzählt werden und die Opfer verstummen lassen, sind nicht vollständig."

Geschichten erzählen ist das eine, das andere ist das Zuhören und das Zuhören wollen.
Werden Geschichten immer nur innerhalb der eigene Kultur oder in der eigenen Blase erzählt und weitergegeben, kann es sein, dass das Verständnis für andere Kulturen nicht vorhanden ist. Z.B. die "Weißen" erzählen sich Geschichten, die "Schwarzen" erzählen sich Geschichten. Innerhalb ihrer Kultur. Es fehlen oft die gemeinsamen Geschichten und vor allem die positiven, gemeinsamen Geschichten.



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Mo 20. Jan 2025, 10:38

Nur zur Vorsicht: Geschichten können natürlich auch ganz und gar negativ sein, ich denke an z.B. Verschwörungsgeschichten.




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Di 21. Jan 2025, 08:28

Ich denke, drei der letzten Fäden, die wir hier diskutiert haben, hängen zusammen: Sinn des Lebens, Resilienz und Geschichten erzählen: Laut Hannah Arendt ist unsere Identität eng mit den Geschichten verbunden, die wir über uns selbst erzählen und diese Geschichten können uns helfen, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten und zu bewältigen. 

Was meint ihr?




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