Klassiker: Was macht das Selbst aus?
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Fundstück: Nina Strohminger und Shaun Nichols (zwei Namen, die ich noch nie gehört habe) haben experimentell erforscht, was uns als Person ausmacht. In Experimenten legten sie Teilnehmenden hypothetische Szenarien vor: Ein Mensch wird wiedergeboren – was bleibt eher erhalten, Ehrlichkeit oder Kreativität? Ein Patient erhält nach einem Unfall ein Gehirntransplantat – hört er auf, er selbst zu sein, wenn er seine Erinnerungen verliert, wenn er apathisch wird oder wenn er keine Empathie mehr empfindet?
Gemäß dem kurzen Text, den ich gefunden habe, und ein paar Google Recherchen ist das in aller Kürze zusammengefasst das Ergebnis: Moralische Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Empathie und Fairness wurden als besonders wichtig für die Identität empfunden, während körperliche Veränderungen weniger ins Gewicht fielen. Erinnerungen, insbesondere solche, die für die persönliche Lebensgeschichte relevant sind, spielten ebenfalls eine Rolle, wenn auch eine etwas geringere. Strohminger und Nichols folgern, dass unser Selbst vor allem durch "moralische Kontinuität" geprägt ist.
Die Methode ist interessant, jeder kann es ja mal an sich selbst versuchen. Was müsste an einem erhalten bleiben, bei einem Hirntransplantat oder einem anderen vergleichbaren Horrorszenario, damit man immer noch man selbst ist.
https://www.philomag.de/artikel/experim ... ss-brennen
Gemäß dem kurzen Text, den ich gefunden habe, und ein paar Google Recherchen ist das in aller Kürze zusammengefasst das Ergebnis: Moralische Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Empathie und Fairness wurden als besonders wichtig für die Identität empfunden, während körperliche Veränderungen weniger ins Gewicht fielen. Erinnerungen, insbesondere solche, die für die persönliche Lebensgeschichte relevant sind, spielten ebenfalls eine Rolle, wenn auch eine etwas geringere. Strohminger und Nichols folgern, dass unser Selbst vor allem durch "moralische Kontinuität" geprägt ist.
Die Methode ist interessant, jeder kann es ja mal an sich selbst versuchen. Was müsste an einem erhalten bleiben, bei einem Hirntransplantat oder einem anderen vergleichbaren Horrorszenario, damit man immer noch man selbst ist.
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+++ Sendepause +++
In meinem schnellen Selbsttest stelle ich fest, dass bei mir die Kontinuität in mehreren Bereichen vorliegen muss:
• Talente: Ich habe bis heute kein Talent zum Beispiel in Jura oder Chemie. Wenn das plötzlich aufkäme, wäre ich eine andere Person. Das gilt auch anders herum; wenn meine bisherigen Talente plötzlich verschwänden, wäre ich ebenfalls eine andere Person.
• Politische Grundhaltung: Wenn ich mich plötzlich beispielsweise in einen Nazi oder Stalinisten verwandelte, wäre ich eine andere Person.
• Temperament: Wenn ich plötzlich zum Beispiel eine jähzornige oder apathische oder exhibitionistische oder unehrliche Persönlichkeit hätte, wäre ich eine andere Person.
Vielleicht gibt es noch weitere Bereiche. Kreativität und Moral habe ich jetzt nicht extra ausgeführt, weil sie vermutlich in mehreren Bereichen teilweise verwoben sind.
Was denken eigentlich andere über mein Selbst? Ich habe festgestellt, dass manche meiner deutschen Bekannten mich befremdlich finden, wenn ich Englisch oder in anderen deutschen Mundarten spreche. Ich habe mich jetzt gefragt, ob ich mich in solchen Fällen auch selbst befremdlich finde. Ich glaube, nicht. Vielleicht in den ersten Sekunden, nach einer langen Pause. Aber sobald die andere Sprache automatisch fließt (spätestens nach Stunden), kann mein Selbst wieder den ganzen persönlichen Entfaltungsraum einnehmen.
• Talente: Ich habe bis heute kein Talent zum Beispiel in Jura oder Chemie. Wenn das plötzlich aufkäme, wäre ich eine andere Person. Das gilt auch anders herum; wenn meine bisherigen Talente plötzlich verschwänden, wäre ich ebenfalls eine andere Person.
• Politische Grundhaltung: Wenn ich mich plötzlich beispielsweise in einen Nazi oder Stalinisten verwandelte, wäre ich eine andere Person.
• Temperament: Wenn ich plötzlich zum Beispiel eine jähzornige oder apathische oder exhibitionistische oder unehrliche Persönlichkeit hätte, wäre ich eine andere Person.
Vielleicht gibt es noch weitere Bereiche. Kreativität und Moral habe ich jetzt nicht extra ausgeführt, weil sie vermutlich in mehreren Bereichen teilweise verwoben sind.
Was denken eigentlich andere über mein Selbst? Ich habe festgestellt, dass manche meiner deutschen Bekannten mich befremdlich finden, wenn ich Englisch oder in anderen deutschen Mundarten spreche. Ich habe mich jetzt gefragt, ob ich mich in solchen Fällen auch selbst befremdlich finde. Ich glaube, nicht. Vielleicht in den ersten Sekunden, nach einer langen Pause. Aber sobald die andere Sprache automatisch fließt (spätestens nach Stunden), kann mein Selbst wieder den ganzen persönlichen Entfaltungsraum einnehmen.
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Ehrlich zu sein, ist ja doch eine moralische Einschätzung, oder? Ja, die verschiedenen Aspekte sind wahrscheinlich eng verwoben. Ich fand die Ergebnisse (die natürlich auch kritisiert werden) überraschend, weil ich eher geglaubt hätte, dass die eigene Geschichte ganz vorne steht. Talente ist auch wichtig, wie du sagt, aber natürlich auch das, was man daraus gemacht hat, oder?
+++ Sendepause +++
Welche Eigenschaften als moralische Eigenschaften aufzufassen sind, kann ich leider nicht beantworten, weil ich nicht genau weiß, was Moral bedeutet, auch wenn ich viele verschiedene Thesen darüber gelesen habe. Also die Beantwortung dieser Frage überlasse ich anderen :-)
Ja, das Gemachte ist dann auch die Lebensgeschichte, und ich hatte mich tatsächlich gefragt, ob meine Lebensgeschichte, also meine Identität, mein Selbst ausmacht. Ich würde sagen: Nein.Talente ist auch wichtig, wie du sagt, aber natürlich auch das, was man daraus gemacht hat, oder?
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Meine Identität:
Meine Geschichte, woher ich komme, was ich gemacht, worunter ich gelitten, was ich gelernt habe, wie ich aussehe, klinge, rieche etc.
Mein Selbst:
Mein Zustand im Jetzt, zu welchem meine Identität hinführte. Mein vergangenes Selbst ist mir im phänomenalen Sinn nicht gegenwärtig, auch nicht, wenn ich alte Fotos ansehe. Und wenn ein Teil meines vergangenen Selbsts dennoch als gegenwärtig erscheint, so ist dieses Teil nicht wirklich vergangen, sondern immer noch aktuell. Also letztendlich ist das Selbst immer im Jetzt, denke ich. Mit Jetzt meine ich eine kurze Zeitspanne von einer Sekunde oder so.
Meine Geschichte, woher ich komme, was ich gemacht, worunter ich gelitten, was ich gelernt habe, wie ich aussehe, klinge, rieche etc.
Mein Selbst:
Mein Zustand im Jetzt, zu welchem meine Identität hinführte. Mein vergangenes Selbst ist mir im phänomenalen Sinn nicht gegenwärtig, auch nicht, wenn ich alte Fotos ansehe. Und wenn ein Teil meines vergangenen Selbsts dennoch als gegenwärtig erscheint, so ist dieses Teil nicht wirklich vergangen, sondern immer noch aktuell. Also letztendlich ist das Selbst immer im Jetzt, denke ich. Mit Jetzt meine ich eine kurze Zeitspanne von einer Sekunde oder so.
Dazu wollte ich noch hinterherschieben, dass die Lebensgeschichte zwar durchaus zum Selbst hinführt, aber die eigentliche Frage zielt vermutlich auf das Selbst und nicht auf dessen Herstellungsgeschichte. Ein Ei beschreibe ich anhand seiner Form; wie die Form enstanden ist, ändert nichts an der Form.
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Ich sehe mich als Zeitwesen. Ich starte bei der Geburt (bzw. bei einer nicht exakt bestimmten Zeit vorher) und ende, wenn ich sterbe (was vermutlich auch nicht exakt bestimmt ist). Das gehört alles zu mir und meinem Selbst.
Man könnte es mit Gedankenexperimenten versuchen in parallelen Universen, in denen ich (sofern man davon sprechen könnte) ganz andere Geschichten erleben könnte. Ich frage mich manchmal, was aus mir geworden wäre, wenn ich vor 500 Jahren geboren worden wäre. Und darauf folgt jedes Mal meine Rückfrage an mich, ob das überhaupt eine sinnvolle Fragestellung ist.
Man könnte es mit Gedankenexperimenten versuchen in parallelen Universen, in denen ich (sofern man davon sprechen könnte) ganz andere Geschichten erleben könnte. Ich frage mich manchmal, was aus mir geworden wäre, wenn ich vor 500 Jahren geboren worden wäre. Und darauf folgt jedes Mal meine Rückfrage an mich, ob das überhaupt eine sinnvolle Fragestellung ist.
+++ Sendepause +++
Ich habe das an mir mit diesem Gedankenexperiment getestet:
Wenn ich nach einem Koma wiedererwache und meinen Namen und meine Geschichte nicht mehr weiß, aber mein Temperament, meine Haltung und meine Talente noch inne habe, ist mein Selbst dann noch da? Ich denke, ja.
Ich werde durch die Straßen gehen, meine Geschichte nicht kennen, aber ich werde eine Karikatur zeichnen, ein Gitarrensolo spielen, der hingefallenen Oma auf die Beine helfen anstatt sie auszulachen, und geduldig auf den Bus warten anstatt jähzornig zu werden. Mein Selbst ist da, nur meine Geschichte ist weg.
Extrembeispiel: Ich hatte schon bei meiner Geburt ein Selbst. Ich erinnere mich an die letzten Sekunden im Bauch meiner Mutter. An meine Entwicklung davor erinnere ich mich nicht. Mein Selbst war auf einen Schlag da.
Wenn ich nach einem Koma wiedererwache und meinen Namen und meine Geschichte nicht mehr weiß, aber mein Temperament, meine Haltung und meine Talente noch inne habe, ist mein Selbst dann noch da? Ich denke, ja.
Ich werde durch die Straßen gehen, meine Geschichte nicht kennen, aber ich werde eine Karikatur zeichnen, ein Gitarrensolo spielen, der hingefallenen Oma auf die Beine helfen anstatt sie auszulachen, und geduldig auf den Bus warten anstatt jähzornig zu werden. Mein Selbst ist da, nur meine Geschichte ist weg.
Extrembeispiel: Ich hatte schon bei meiner Geburt ein Selbst. Ich erinnere mich an die letzten Sekunden im Bauch meiner Mutter. An meine Entwicklung davor erinnere ich mich nicht. Mein Selbst war auf einen Schlag da.
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Hier kann man noch unterscheiden, eine Geschichte haben und sie kennen, sind verschieden. Wenn ich sie vergesse, aber mich hinsetze und ein Gesicht zeichne, dann ist die Geschichte in meinen Handlungen ja präsent!
+++ Sendepause +++
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Der Vorgang des "Sich Selbst Spürens" ist etwas, was in der Zeit stattfindet, nur unterbrochen von Phasen der Bewusstlosigkeit, zum Beispiel im traumlosen Schlaf. Von mir aus kann man sagen, dass dieser Vorgang in der Jetzt-Zeitspanne geschieht. Aber das ist nur der Aspekt des Vorgangs bzw. des Aktes. Aber es gibt auch noch eine andere Seite, es wird ja etwas gespürt und erlebt. Man erlebt und spürt sich sinnlich selbst. Und das, was man da spürt, darin ist ja vieles anwesend, was Teil meiner Lebensgeschichte ist oder auch meiner Pläne oder Hoffnungen. Vorfreude - verstanden als Akt - geschieht zwar im Jetzt, aber der intentionale Gegenstand der Vorfreude ist etwas in der Zukunft, sagen wir der 70e Geburtstag. Wenn ich jetzt routiniert eine bestimmte Bewegung mache, dann vielleicht, weil ich sie in der Vergangenheit eingeübt habe, auch im Hinblick auf diese Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft sind in diese Bewegung eingeschrieben.
+++ Sendepause +++
Ja, schon klar. Aber ist dieses Anwesende ein notwendiges Puzzle-Teil, damit das Selbst ein Selbst sein kann? Haben Menschen mit Gedächtnisverlust, also mit Biografie-Verlust, kein Selbst mehr? Ich denke doch, dass das Selbst existieren kann von der ersten Biografie-Sekunde an.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 13. Feb 2025, 12:40Und das, was man da spürt, darin ist ja vieles anwesend, was Teil meiner Lebensgeschichte ist oder auch meiner Pläne oder Hoffnungen.
Wenn jemand nach dem Koma-Erwachen nichts mehr weiß, jedoch immer noch Fahrradfahren kann, weil er das mal erlernt hat, würdest Du dann das damalige Fahrradfahrenlernen als einen Teil des Selbsts sehen oder nur das jetzige Fahrradfahrenkönnen als einen Teil des Selbsts sehen?
Zuletzt geändert von Quk am Do 13. Feb 2025, 19:12, insgesamt 1-mal geändert.
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Ich denke, ein Gedächtnisverlust ist ein ziemlich harter Schlag für die eigene Existenz. Aber mit dem Verlust des Gedächtnis ist ja nicht die Biografie verloren, sondern nur große Teile der Erinnerung daran. Die Biografie ist schließlich auch in den Körper eingeschrieben.
+++ Sendepause +++
Wer aus dem Koma erwacht, seinen Körper betrachtet und in den Spiegel schaut und sich nicht wiedererkennt, dem nützt keine moralische Kontinuität etwas. Dem eigenen Leib, dem eigenen Gesicht entfremdet zu sein, ließe keinen Identitätsgedanken mehr zu. Insofern: ein altes Ich in einem neuen Körper würde einen Hiatus zwischen dem im Gehirn vorhandenen Selbstbild und dem tatsächlich erkennbaren Bild schaffen. Wenn ein durchtrainierter Hering im Körper eines drei Zentner schweren Fettleibigen erwacht, ist alles andere egal. Ebenso wenn ich plötzlich im Körper eines Schwarzen oder Indigenen erwache. In unserem Hirn ist unsere gesamte Leiblichkeit abgespeichert. Um sich wiederzuerkennen, muss diese Leiblichkeit auch wiedererkennbar sein.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mi 12. Feb 2025, 20:01Fundstück: Nina Strohminger und Shaun Nichols (zwei Namen, die ich noch nie gehört habe) haben experimentell erforscht, was uns als Person ausmacht. In Experimenten legten sie Teilnehmenden hypothetische Szenarien vor: Ein Mensch wird wiedergeboren – was bleibt eher erhalten, Ehrlichkeit oder Kreativität? Ein Patient erhält nach einem Unfall ein Gehirntransplantat – hört er auf, er selbst zu sein, wenn er seine Erinnerungen verliert, wenn er apathisch wird oder wenn er keine Empathie mehr empfindet?
Gemäß dem kurzen Text, den ich gefunden habe, und ein paar Google Recherchen ist das in aller Kürze zusammengefasst das Ergebnis: Moralische Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Empathie und Fairness wurden als besonders wichtig für die Identität empfunden, während körperliche Veränderungen weniger ins Gewicht fielen. Erinnerungen, insbesondere solche, die für die persönliche Lebensgeschichte relevant sind, spielten ebenfalls eine Rolle, wenn auch eine etwas geringere. Strohminger und Nichols folgern, dass unser Selbst vor allem durch "moralische Kontinuität" geprägt ist.
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Die Frage verstehe ich leider nicht.Quk hat geschrieben : ↑Do 13. Feb 2025, 19:05Wenn jemand nach dem Koma-Erwachen nichts mehr weiß, jedoch immer noch Fahrradfahren kann, weil er das mal erlernt hat, würdest Du dann das damalige Fahrradfahrenlernen als einen Teil des Selbsts sehen oder nur das jetzige Fahrradfahrenkönnen als einen Teil des Selbsts sehen?
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